Die Ballade von Tony und Steve
Dec. 23rd, 2012 06:38 pm![[personal profile]](https://www.dreamwidth.org/img/silk/identity/user.png)
Autor:
ayascythe
Fandom: The Avengers (MCU)
Pairing: Steve Rogers/Tony Stark
Rating: R (NC-17 für das letzte Kapitel)
Language: Deutsch/German
Wortanzahl: 45.242
Einstufungen/Warnungen: Mystery, Drama, Angst, Slash
Beta:
3ngel
Disclaimer: Das Avengers-Universum gehört Marvel und jegliches Copyright liegt bei ihnen. Ich habe mir lediglich die Charaktere ausgeliehen, um ein bisschen mit ihnen zu spielen. Ich mache hiermit kein Geld.
Prolog | Kapitel 1: Wahrscheinlichkeiten | Kapitel 2: Finsternis | Kapitel 3: Schlaflos | Kapitel 4: Vertigo | Kapitel 5: Stille | Kapitel 6: Sturm | Kapitel 7: Narben | Epilog
AO3 | FF.de
Fanart-Masterpost von
sweetestremedy: LJ | AO3
Kapitel 4: Vertigo
Does this darkness have a name? This cruelty? This hatred? How did it find us? Did it steal into our lives or did we seek it out and embrace it? What happened to us? That we now send our children into the world like we send young men to war, hoping for their safe return, but knowing that some will be lost along the way. When did we lose our way? Consumed by the shadows, swallowed all by the darkness. Does this darkness have a name? Is it your name?
- With Tired Eyes, Tired Minds, Tired Souls, We Slept, One Tree Hill
Mehrere Tage gingen ins Land ohne eine Reaktion oder ein Lebenszeichen aus Asgard.
Pepper meldete sich und erinnerte Tony daran, dass er nicht umsonst ein Vermögen besaß, sondern eine Firma hatte, die gelegentlich nach seiner Aufmerksamkeit verlangte. Weil er nicht wollte, dass weder Pepper noch Fury Lunte rochen, schickte er zwei neue Entwürfe durch, um seinen guten Willen zu zeigen. Pepper wollte ihn daraufhin zu einer Aufsichtsratsversammlung schleppen, aber so weit ging sein guter Wille dann doch nicht.
Den Rest der Zeit verbrachte er damit, sich in seiner Werkstatt zu verkriechen und in nordische Mythologie einzulesen. Er ließ JARVIS durch das Internet und alle ihm zur Verfügung stehenden Datenbanken jagen. Wenn niemand da war, der ihm spöttische Blicke zuwerfen konnte, griff er sogar zu Bruces alten Büchern. Vili und Vé wurden tatsächlich kaum erwähnt. Tony bezweifelte, dass er etwas Neues finden würde, doch solange sie auf eine Antwort von Thor warteten, war es eines der wenigen Dinge, die er tun konnte. Stillsitzen war noch nie sein Ding gewesen.
Er verlor sich in Artikeln, Mappen und alten Büchern und hätte wohl den ganzen Tag so zugebracht, wenn sich sein Magen nicht irgendwann bemerkbar gemacht hätte. Er war es gewohnt, lange Zeit entweder ohne oder nur mit fraglich nahrhaftem Essen auszukommen. Wenn sein Körper protestierte und Tony dies tatsächlich bemerkte, dann wurde es allerdings höchste Zeit. Er verließ die Werkstatt und schlurfte nach oben in seine Küche, stand eine Weile unschlüssig vor den Küchenschränken und entschied sich gegen Lieferdienst und für eine Schüssel Fruit Loops. (Gesunde Ernährung? Ha, was war das?)
"Hey."
Tony schüttete vor Schreck die Hälfte der Milch über den Rand der Schüssel hinaus.
"Steve! Hey. Du musst wirklich aufhören dich von hinten an mich heranzuschleichen. Selbst wenn ich hier in der Küche bin und man durchaus damit rechnen sollte, dass auch andere zum Essen hierher kommen. Apropos Essen. Auch eine Schüssel?", ratterte Tony in einem halben Atemzug herunter, um zu überspielen wie sehr ihn Steves plötzliches Erscheinen aus dem Konzept gebracht hatte. Mit einem schiefen Grinsen deutete er auf die Packung Fruit Loops, die neben ihm auf der Küchentheke stand.
Steve winkte müde lächelnd ab. Und er sah wirklich müde aus. Es war die Art von körperlicher Erschöpfung, bei der man von seinen letzten Reserven zehrte um noch aufrecht zu stehen.
"Wo sind die anderen?"
"Unten im Labor. Also dachte ich, ich statte dir einen Besuch ab. Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden wollte."
"Okay. Schieß los." Während er antwortete, schenkte er Steve ein Glas Milch ein und drückte es ihm ungefragt in die Hand. Die letzten Untersuchungen hatten ergeben, dass er ohne ersichtlichen Grund ganze fünf Kilo abgenommen hatte.
"Weißt du, in letzter Zeit muss ich immer wieder an früher denken. An all die Dinge, an all die Menschen, die ich zurückgelassen habe." Steve drehte das Glas in seinen Händen ohne zu trinken. "Es gab da dieses Mädchen, Peggy. Sie hätte dir gefallen: Sie ließ sich von niemandem etwas sagen und hatte einen höllischen rechten Haken."
"Wer sagt, dass ich auf solche Frauen stehe?", fragte Tony und sie schmunzelten beide, als sie unweigerlich an Pepper dachten. Er räusperte sich. "Lebt sie noch? Ich meine, möchtest du sie treffen? Das lässt sich bestimmt einrichten."
Steve schüttelte energisch den Kopf. "Nein. Dafür ist der Zug bereits abgefahren. Peggy hat ein ganzes Leben hinter sich, eines ohne mich und ich gehöre da nicht mehr hinein."
Er stellte das Glas neben Tony ab und sah ihn nachdenklich an. "Aber es hat mich an etwas erinnert. Peggy und ich hatten nie die Gelegenheit mehr zu werden. Vielleicht dachten wir beide 'nach dem Krieg' und 'wenn alles vorbei ist'. Das Problem war, dass ich das Ende des Krieges nie erlebt habe."
"Mmmh."
"Ich will nicht, dass mir das noch einmal passiert." Das schiefe Lächeln, das sich dabei auf Steves Gesicht stahl, war interessant, wenn nicht sogar aufschlussreich. So lächelte jemand, der ein Geheimnis hatte, jemand der ein Vorhaben hatte, jemand der- Ah. Konnte das heißen, dass Steve jemand Neues gefunden hatte? Jemanden, mit dem er den Augenblick nutzen wollte?
"Okay, Cap", sagte Tony heiter, auch wenn er sich ganz und gar nicht danach fühlte. Eher so, als ob Happy ihn bei einer ihrer Box-Stunden versehentlich direkt am ARK-Reaktor getroffen hatte. Zuerst merkte man nur, wie einem die Luft aus den Lungen getrieben wurde. Aber dann. "Wer ist sie und soll ich ein Restaurant für euch mieten?"
"Nein, das meinte ich nicht damit. Du verstehst nicht-", warf Steve ein und blinzelte zur Decke. Seit langem hatte er wieder so etwas wie Farbe mit Gesicht. "Ich weiß, dass ich erst neulich gesagt habe, dass ich dich zu meinen Freunden zähle. Aber ... Es wäre auch nett, wenn wir ... wenn wir Zeit haben - nicht wenn das alles hier vorbei ist, denn wer weiß, wann das sein wird - also, wenn du möchtest ... könntenwirzusammenausgehen."
"Bitte?"
"Ausgehen. Essen, Kino, ein Lokal, was immer du möchtest."
Tony blinzelte. "Klar. Ich bin mir sicher, die anderen freuen sich über einen Vorwand, einen Teamausflug zu machen."
Noch ein bisschen mehr Farbe stieg in Steves Gesicht. Er druckste eine Weile herum bis er korrigierte: "Ich meinte nur wir zwei."
"Wir zwei. Als Freunde." Tony bemühte sich, seine Stimme am Ende des Satzes nicht hochgehen zu lassen, als ob es eine Frage wäre. Da gab es nichts zu fragen. Denn genau das waren sie: Freunde, nichts weiter.
"Nein." Steve machte einen Schritt nach vorne und stand auf einmal zu nah vor ihm. Tony machte einen Schritt zurück. Die Theke drückte in seinen Rücken, doch alles, was er wahrnahm, war Cap, Steve, der über ihm ragte und ihn so durchdringend ansah, dass Tony das Blut in den Ohren rauschte. Da war nichts mehr von Verlegenheit zu erkennen. Steve wirkte äußerst entschlossen. "Nicht als Freunde. Eine Verabredung. Willst du mit mir ausgehen?"
Tony wollte Einspruch erheben, denn das war eine absurde Frage, Steve interessierte sich nicht für ihn, er würde niemals-
"Oh, ich verstehe." Er schnaubte, verärgert, enttäuscht, als der Groschen fiel. Ein leises Glucksen bahnte sich seine Kehle hoch, weil es so absurd war, weil Tony absurd war, und weil er es einen Augenblick lang wirklich hatte glauben wollen. "Du bist das. Beinahe hättest du mich drangekriegt. Lass den Scheiß und verschwinde endlich. Geh raus aus ihm."
Wütend bohrte er einen Finger in Steves Brust. Und für einen kleinen Moment, der eine Ewigkeit dauerte, sackte Tony das Herz in die Hose. Denn in Steves Augen trat ein so zerschlagener Ausdruck, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Tony öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wollte sich entschuldigen - oh Gott, was, wenn es wirklich Steve war, wenn er es ernst gemeint hatte - was wenn ...
"Warum sollte ich? Es gefällt mir hier."
Er bemerkte zu spät das Flackern in den Augen, genauso wie er zu spät bemerkte, dass sich alles an Steves Haltung verändert hatte. Plötzlich lehnte er über ihm, die Hände wie Schraubstöcke um Tonys Arme geschlungen und lächelte ihn mit dunklen Augen an.
"Weißt du, Anthony, du hast mir nie erzählt wie das da funktioniert." Eine Hand wechselte blitzschnell von Tonys Arm zu seinem Hals. Drückte ihn nach oben, halb gegen die Theke, halb gegen den Küchenschrank. Der andere Steve lächelte, als Tony erfolglos versuchte, den Griff um seinen Hals zu lockern und tippte wieder einmal mit seiner Fingerspitze auf die Mitte des ARK-Reaktors. "Vielleicht sollte ich selbst einmal nachsehen."
Noch bevor Tony etwas tun oder sagen konnte, lag Steves freie Hand an der Fassung des Reaktors, drehte, übte das genaue Ausmaß an Druck aus, um ihn herauszulösen. Genau so, wie Tony es ihm vor einer gefühlten Ewigkeit vorgeführt hatte. Dann gab es einen leichten Ruck und die Verbindung zwischen ARK-Reaktor und Magnet wurde getrennt.
Fuck.
Es dauerte keine zwei Sekunden, bis das Magnetfeld in sich zusammenbrach. Es würde weitere 180 Sekunden dauern, bis das scharfe, kriechende Ziehen in seiner Brust einsetzte, das er so sehr hasste. Der andere Steve betrachtete interessiert, ja beinahe fasziniert, das leuchtende Zentrum des Reaktors und drehte ihn in seiner freien Hand.
"Es ist zwar nicht der Tesserakt, aber vielleicht reicht es aus."
"Was ... hast du vor?"
"Etwas zu Ende bringen, dass ich vor langer Zeit angefangen habe."
"Lass mich raten: die Weltherrschaft an dich reißen?", fragte Tony abfällig. Die Antwort war ein Lächeln, so eiskalt, dass Tony darüber fast den wachsenden Schmerz in seiner Brust vergaß. "Mal ehrlich, wird das nicht langweilig? Wann lasst ihr Psychopathen euch - hgng - endlich was Neues einfallen?"
"Es geht um weitaus mehr, als nur um die Weltherrschaft", schnarrte der andere Steve, doch er schenkte ihm kaum Beachtung. Er strich mit dem Daumen über das leuchtende Glas des Reaktors und für einen kurzen Augenblick schien die Schwärze in seinen Augen zu flackern. "Es geht darum, wieder zu Göttern aufzusteigen."
Götter, schoss ihm durch den Kopf. Natasha hatte Recht.
"Götter werden überbewertet." Ein Husten bahnte sich nach oben, schüttelte ihn durch und sorgte dafür, dass Tony die Splitter in seiner Brust umso stärker wahrnahm. "Die, die ich kenne, sind laut oder haben himmelschreiende Vaterkomplexe. Und wenn ich das schon sage ..."
Er versuchte zur Seite hin auszuweichen, doch der Griff um seinen Hals saß bombenfest. Alles, was er erreichte, war an der Theke entlangzurutschen und dabei das Glas herunterzustoßen. Klirrend zersprang es am Boden.
"Oh, Anthony, wir wissen doch beide, dass es dir um etwas ganz anderes geht. Du willst ihn zurück haben, deinen Captain", sagte der andere Steve mit leiser, spöttischer Stimme. "Wenn er nur wüsste! Captain America, eine mangelhafte Kopie des Übermenschen, und der Mann aus Eisen, eine mangelhalfte Kopie von Howard Stark. Was für ein Paar."
Tonys rechte Hand tastete blind auf der Theke hinter sich, bis er gegen die volle Schüssel mit Fruit Loops stieß. Ein bisschen Milch schwappte über seine Finger. Der Griff um seinen Hals wurde kontinuierlich fester, schmerzte und - was am schlimmsten war - drückte ihm immer mehr die Luft ab. Das war noch nichts gegen die Splitter, die langsam aber sicher in Richtung seines Herzens krochen.
"Tag für Tag muss ich mit ansehen, wie du dich anbiederst wie ein räudiger Hund, der um Aufmerksamkeit bettelt. Träumst du nachts von ihm? Stellst du dir vor, er könnte dein entartetes Verhalten gutheißen? Oder deine krankhaften Neigungen sogar teilen? Oh, Anthony. Es wird Zeit, dass du der Wahrheit ins Gesicht siehst: Du bist nicht gut genug. Du wirst niemals gut genug sein. Aber der Captain würde dir das natürlich nicht ins Gesicht sagen. Er war schon immer zu höflich."
"Fick dich", spuckte er röchelnd hervor. Seine Finger schlossen sich jetzt um den Rand der Schüssel und mit einer letzten Kraftaufbietung schmetterte er sie gegen Steves Schläfe. Milch, Fruit Loops und Keramikscherben regneten zwischen ihnen herunter. Die Hand an seinem Hals ließ ihn los und Tony fiel wie ein Sack zu Boden.
"AH!" Steve hielt sich den blutenden Kopf, drückte den ARK-Reaktor gegen seine Brust und war einen Augenblick lang nur noch mit sich selbst beschäftigt. Nicht, dass Tony davon viel mitbekam, denn das Ziehen in seiner Brust war unerträglich geworden. Ächzend kroch er vorwärts, rutschte auf etwas Feuchtem aus (Blut? Wo kam das her?). Er musste zu Steve. Er brauchte den Reaktor. Er musste-
"Tony!" Tony war zur Seite gekippt und blickte schwer atmend nach oben. In Steves Augen flackerte es wieder - schwarz, blau, schwarz, blau, blau, blau wie der Himmel -, bis Panik darin aufleuchtete. "Was ..."
Plötzlich war ein Wirbelwind aus feuerroten Haaren in Tonys Blickfeld. Natasha hatte Steve gepackt und mit festem Griff auf den Boden gepinnt, bevor dieser reagieren konnte. Er wehrte sich nicht. Er lag einfach nur da und sah Tony entsetzt in die Augen.
"Cap! Was zur Hölle", schrie sie ihn an. Erst jetzt erfasste sie die Situation, sah den ARK-Reaktor, der leise über den Boden kullerte. Wie durch einen Schleier nahm Tony wahr, wie Natasha entsetzt nach Bruce rief, während Steve ihm weiterhin in die Augen starrte. Dann wurde alles schwarz.
Das letzte, was er hörte, war ein deftiges Fluchen auf Russisch.
*
Das erste, was er hörte, war das leise Summen des ARK-Reaktors. Sein Herz machte einen kleinen Satz, bis er das Geräusch mit seiner Brust in Verbindung brachte und daraus einen Schluss ziehen konnte: Ich lebe noch.
Er verkniff sich das Aufatmen - nicht zuletzt, weil sich seine Brust unangenehm empfindlich anfühlte -, sondern schlug die Augen auf. Drei ernsthaft dreinblickende Gesichter schwebten in seinem Sichtfeld.
"Hi", säuselte er und setzte ein schräges, müdes Grinsen auf. "Erinnert mich daran, dass ich nächstes Mal die Finger vom billigen Vodka lasse."
"Okay Leute, alles in Ordnung, wir können alle wieder heim. Stark ist immer noch eine Arschgeige." Clint klang schoddrig wie immer, doch um seinen Lippen spielte Erleichterung. Im Gegensatz dazu wirkte Bruce keineswegs amüsiert; er griff nach Tonys Handgelenk um dessen Puls zu messen. Erst da merkte Tony, dass er Verbände um seine Handflächen hatte.
"Die Scherben am Boden", erklärte Natasha, als hätte sie seine Frage geahnt. "Du bist hineingefallen."
"Du hattest beinahe einen Herzstillstand", fügte Bruce hinzu und schob sich die Brille auf der Nase höher. Die Tatsache, dass er nicht einfach bleich war, sondern immer wieder ein schattenhaftes Grün über sein Gesicht huschte, zeigte, wie sehr ihn das aus der Bahn geworfen hatte. "Sei froh, dass JARVIS uns so schnell gewarnt hat. Du solltest eigentlich im Krankenhaus liegen."
Mühsam setzte Tony sich auf und wimmelte Bruces Hände sowie jegliche Kommentare ab, die mit "Krankenhaus" zu tun hatten.
"Und Cap?", fragte er, doch keiner antwortete und alle bemühten sich seinem Blick zu entgehen. Sein Herz begann wieder schneller zu schlagen. Jedes Pumpen war eine schmerzhafte Erinnerung an das, was vorhin erst passiert war.
"Wo ist Steve?"
*
"Das ist nicht dein Ernst, oder?"
Steve zuckte kaum merklich zusammen und sah von seinen Händen auf, die er bis eben noch angestarrt hatte. In seinem Haaransatz war die fast verheilte Schramme zu sehen, die Tony ihm verpasst hatte.
"Tony! Bist du okay?" In seinen Augen lag unsägliche Erleichterung, zumindest bis sie wieder von diesem verkniffenen Gesichtsausdruck abgelöst wurde, den Tony nicht leiden konnte.
"Natürlich bin ich okay. Guck nicht so, sonst bekommst du Falten", schnappte er. Er ignorierte das Stechen in seiner Brust - Nachwehen seines Beinah-Herzanfalls - und hämmerte mit seiner bandagierten Hand gegen die Panzerglasscheibe, die sie beide trennte. Die Scheibe blieb vollkommen unbeeindruckt stehen. "Cap, was zum Teufel tust du da drin?"
"Da drin" war eine Art Panikraum, der nach außen hin hermetisch abgeriegelt war und jemanden notfalls für Wochen mit Nahrung, Wasser und allem versorgen konnte, was ein Mensch zum Überleben brauchte. "Da drin" war eigentlich für den Fall gedacht, dass Bruce einmal als Hulk die Kontrolle verlieren sollte. "Da drin" war zum Schutz gedacht, nicht als Gefängnis.
"Es war das einzige, was wir auf die Schnelle auftreiben konnten", zuckte Steve die Achseln. "Außerdem liegt es auf Bruces Etage, das heißt, er kann mich besser im Auge behalten."
"JARVIS, lass ihn da raus."
//Es tut mir Leid, Sir, aber Dr. Banner hat Ihre Zugriffcodes für diesen Raum bis auf Weiteres überschrieben.//
"Er hat was?" Tony schlug erneut gegen die Scheibe. "Manuellen Notvorgang einleiten."
Er ignorierte Steves entschuldigenden Blick und tippte wütend auf dem Nummernpad an der Tür einen Code ein. Es piepste und leuchtete zweimal rot auf.
//Zugang verweigert.//
"Tony, hör auf." Ein Kopfschütteln. Und wieder dieses furchtbare Stirnrunzeln. "Tut mir Leid", meinte Steve mit leiser Stimme. Es klang, als entschuldigte er sich für weitaus mehr als für die Tatsache, dass er mit Bruce gemeinsame Sache gemacht hatte.
"Steve, lass die Scheiße. Komm da raus. Das ist genau das, was ich verhindern wollte."
"Ich kann nicht herauskommen. Ich werde nicht herauskommen. Verstehst du denn nicht?" Steve trat nach vorne. Für einen Supersoldaten wirkte er seltsam klein hinter der Scheibe, beinahe hilflos. Es war ein Anblick, den Tony nicht von ihm gewohnt war. Es war ein Anblick, den er lieber wieder vergessen hätte. "Ich habe dich fast umgebracht!"
"Na und?", blaffte er zurück, als plötzliche Wut durch ihn rauschte. "Glaubst du, du bist der einzige? Glaubst du, du wirst der letzte sein? Ich bin Tony Stark, verdammt nochmal! Es gibt eine Warteliste für Leute, die mich umbringen wollen!"
Steve wirkte betroffen, verletzt, und für einen Moment konnte Tony regelrecht sehen, wie er alle seine eigenen Probleme in den Hintergrund schob, nur um sich über den Umstand zu sorgen, dass es noch mehr Leute gab, die Tony tot sehen wollten. Dann, ohne Vorwarnung, weiteten sich seine Pupillen und er lachte. "Mag sein. Aber ich werde derjenige sein, dem es gelingt."
Steve streckte seine Hand aus, drückte sie auf das Glas, genau gegenüber der Stelle, an der Tonys Reaktor lag. Wieder flackerte es in seinen Augen - Gier und Furcht, Furcht und Gier - und obwohl sie sich nicht berührten, stellten sich Tonys Nackenhaare auf. Nicht zum ersten Mal kämpfte er gegen die nagenden Zweifel an, dass dies vielleicht kein gute Ende nehmen würde.
Schließlich presste Steve die Stirn gegen die Scheibe als hätte er Schmerzen, doch als er aufblickte, war er wieder er selbst.
"Verstehst du nicht? Ich habe die Aufnahmen gesehen. Er- er ist-", er kämpfte mit den nächsten Worten, doch sie wollte ihm nicht über die Lippen kommen. "Er will den Reaktor und damit auch dich. Das kann ich nicht zulassen." Seine Stimme klang heiser und müde. So unendlich müde, wie hundert Nächte ohne Schlaf, wie tausend unbeendete Kämpfe, wie jemand, der kurz vorm Aufgeben stand. "Du solltest jetzt besser ... gehen."
Tony lagen Hunderte von Erwiderungen auf der Zunge, doch er schluckte sie alle hinunter und stapfte wütend davon.
*
Er war sauer. Sauer, dass Bruce ihn hintergangen hatte und diesen Unsinn mit der Zelle zwar nicht vorgeschlagen, aber dennoch zugelassen hatte. Er war sauer auf Steve, weil dieser alles so stoisch mitmachte. Vor allem war er aber sauer auf sich selbst, auf diese dumme Situation und dass er zugelassen hatte, dass es derartig eskalieren konnte. War er nicht das große Genie des Teams? Hätte er es nicht voraussehen und verhindern müssen?
Wenn er ehrlich sein sollte, dann hatte ihn der Vorfall übel mitgenommen. Vor den anderen hatte er sich zusammengerissen, wie er das immer tat, seit er als kleiner Junge gelernt hatte, dass weder Heulen noch Schwäche zeigen etwas brachten. Doch in der folgenden Nacht schreckte er aus dem Schlaf hoch, griff sich panisch an die Brust, nur um erleichtert festzustellen, dass der Reaktor noch da war. Danach versuchte er erst gar nicht wieder einzuschlafen.
Es dauerte eine Weile, bis Tony jemandem vom Team wieder unter die Augen treten konnte. (Es dauerte 47 Stunden und Tony hätte noch weitaus länger ausgehalten, wenn ihm nicht der Kaffee in seiner Werkstatt ausgegangen wäre. Das, und das nagende Bedürfnis Steve sehen zu wollen, zu wissen, ob er in Ordnung war.) Er fiel in Bruces Küche herein, weil sie am nächsten lag und klammerte sich an seinem Kaffee fest, während er eindringlich gemustert wurde.
"Es ist nicht unsere Schuld", sagte Bruce, weil der Kerl ein Hellseher war oder ihn inzwischen einfach zu gut kannte. "Und schon gar nicht deine, Tony."
Gleichgültig zuckte er die Achseln und blies den Dampf aus seiner Tasse. "Wie du meinst."
Bruces Blick bekam diesen Hauch von Mitgefühl, den er nur für Tony reserviert zu haben schien. Tony musste irgendwann eine ernste Unterhaltung mit ihm darüber führen, dass Mitleid wirklich nicht in Ordnung und er mindestens genauso hart drauf wie Nick Fury war. Irgendwann, aber nicht heute. Heute ließ er die Blicke über sich ergehen, bis Bruce ihm ein abgegriffenes Taschenbuch in die Hand drückte und ihn auffordernd ansah.
"Was soll ich damit?" Verständnislos stellte er den Kaffee beiseite, doch dann fiel sein Blick auf den Titel: "Der Herr der Ringe". Steves Lieblingsbuch. In der kurzen Zeit, in der er hier wohnte, hatte Tony schon mehrfach gesehen, wie er die Nase darin vergraben und die Welt um sich vergessen hatte.
"Er könnte ein bisschen Ablenkung gebrauchen", erklärte Bruce, ohne das auszusprechen, was er wirklich meinte: Geh zu ihm. Rede mit ihm.
Und Tony – weil er genau deswegen hier war, aber das niemals zugeben würde – zuckte erneut nonchalant die Achseln. "Kann ich mir vorstellen. Clint kennt keine anderen Gesprächsthemen außer beschissene Cartoons und Bogenschießen. Und Natasha … ich schwöre, sie hat außerhalb von Missionen noch nie ein Wort mit mir gewechselt. Außer, wenn sie mir ihre Missachtung zeigen will."
"Natürlich." Bruces Mundwinkel kräuselten sich, doch seine Augen blieben ernst und auffordernd. Grundgütiger, da hatte jemand tatsächlich zu viel Zeit mit Captain America verbracht. Tony wedelte mit dem Buch in der Luft herum, zwang ein Grinsen in sein Gesicht und murmelte etwas Vages und Unverständliches. Erst als er schon längst aus der Küche war und dem Gang zum Panikraum folgte, ging ihm auf, dass er seinen Kaffee vergessen hatte. Er spielte halb mit dem Gedanken, umzudrehen (und zu flüchten).
Dann bemerkte er die Stimmen.
"Es wird schlimmer, weißt du", hörte er Steve sagen und blieb abrupt stehen. "Bruce und Tony versuchen es herunterzuspielen, aber ich weiß es. Ist schwer, es nicht zu bemerken, wenn einem mehrere Stunden Erinnerungen fehlen."
Tony schluckte. Offensichtlich war das eine Unterhaltung, die nicht für seine Ohren bestimmt war. Seine Finger spielten mit den abstehenden Ecken des Buches, während er abwog, was er tun sollte. Noch konnte er sich bemerkbar machen oder umkehren. Noch zählte es nicht als Belauschen. Kurz fragte er sich, mit wem Steve da redete – Clint oder Natasha, es konnte nur einer der beiden sein, vielleicht auch JARVIS, doch dann versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, dass ihn das nichts anging.
"Wie war es für dich? Kannst du dich an die Zeit erinnern, in der du unter Lokis Kontrolle warst?"
Also Clint. Der schien merklich zu zögern, denn es herrschte eine lange, angespannte Pause. Die Pappe war rau unter Tonys Fingern, und er stellte sich vor, wie oft Steve die Buchdeckel angefasst haben musste, wie oft er vielleicht einfach nur dasaß, mit den Fingern über den geknickten Buchrücken strich. Tony konnte nichts mit Büchern anfangen, doch er konnte verstehen, warum sie für Steve wichtig waren. Dass er manchmal lieber Dinge in den Händen hielt, als nur ihr Abbild auf einem Bildschirm zu sehen.
"Teilweise", gab Clint schließlich zu und sorgte dafür, dass Tony aus seinen Gedanken hochschreckte. "Viele Erinnerungen sind verschwommen oder kaum da. Aber ich erinnere mich daran, wie es sich angefühlt hat. Als ob dich jemand unter Wasser drückt. Alles ist so weit weg und gedämpft, dass du das Gefühl hast, gar nicht da zu sein. Wenn du genug strampelst und dich wehrst, kannst du vielleicht an der Oberfläche ein paar Wellen erzeugen. Manchmal funktioniert das sogar. Aber die meiste Zeit hört niemand, wie laut du schreist."
Das Kratzen eines Stuhls über den Boden. Leises Tappen. Jemand ging auf und ab – vermutlich Steve. Die Schritte hatten einen hohlen Klang, der wahrscheinlich durch die Übertragung der Lautsprecher zustande kam.
"Ich bin einfach ... weg. Und dann wieder da. Als ob jemand einen Schalter umgelegt hat. Und ich wache auf, ohne zu wissen, was ich getan habe. Immer und immer wieder. Und da ist … etwas. Etwas, das mich hindert Dinge auszusprechen. Am schlimmsten sind die Fragen. Wo bin ich?, Wie viel Zeit habe ich diesmal verloren?, Was habe ich getan? und-"
"Wen habe ich getötet?", beendete Clint den Satz mit einer Bestimmtheit, die verriet, dass er genau wusste, wovon Steve redete. Tony hatte nie darüber nachgedacht, wie es für Clint gewesen war, ob ihm die Leute von SHIELD das Leben schwer gemacht hatten, ob sie ihn jetzt hassten, für die Dinge, die er unter Lokis Einfluss getan hatte. Vielleicht gab es noch mehr Gründe als "nicht näher definierten SHIELD-Kram", wegen denen Natasha und Clint nach den Chitauri erst einmal abgetaucht waren.
"Cap-" Clint hielt inne, wieder ertönten Schritte und Tony bekam erst dann mit, dass er entdeckt worden war, als Clint um die Ecke linste und ihn hinterhältig anfunkelte. "Stark. Du wirst schon erwartet."
Was? Wie? Wo? Dabei hatte er doch nur geatmet, vielleicht sein Gewicht verlagert, maximal mit einer Ecke des Buches gespielt. Clint hätte niemals- Doch Clint packte ihn am Arm und zog ihn hinter sich her. Verdammte Ninjas.
Er wurde mehr geschubst, als dass er nach vorne trat. Von hinten glaubte er Clints Stimme etwas in sein Ohr zischen zu hören wie "Bring das in Ordnung" oder "Sei bloß kein Arschloch", doch als er sich umdrehte, marschierte der Meisterschütze schon den Gang zurück.
"Steve. Hey." Tony fummelte an dem Buch herum und für einen Augenblick war er wieder in der Küche, gegen die Theke gepresst, in seinem Wohnzimmer, gelähmt auf seiner Couch. Obie, der über ihn gebeugt war, während er langsam aber sicher starb. Obies höhnisches Halblächeln wurde zu dem von Steve, nur dass Steve diese furchtbaren schwarzen Augen hatte, diese berechnende Kälte in der Stimme und …
"Tony."
… Steve, der ihn mit traurigen blauen Augen ansah und im Moment weder Captain America noch der mordlustige Andere war. Er war der einfache Kerl aus Brooklyn, der zu nett für dieses Zeitalter und zu gut für Tony war und das alles nicht verdient hatte. Tony zwang ein schwaches Lächeln auf seine Lippen.
"Hey Großer. Ich hab gehört, dass dir langweilig ist." Demonstrativ zeigte er das Buch, bevor er es in das Fach legte, mit dem man Essen und sonstige Gegenstände in Steves Zelle bekam, ohne direkten Kontakt zu haben.
"Es tut mir so Leid, Tony. Ich kann verstehen, wenn du-"
"-absolut empört bin, dass sie dir kein anständiges Bett da reingestellt haben? Ja."
"Tony-"
"Cap", warf er ein, schärfer und eindringlicher als gewollt. Dann winkte er ab, beiläufig, gleichgültig, wie er alles beiseite wischte, das ihm Angst machte. "Es ist okay. Wirklich."
Steve ließ die Schultern hängen, ob aus Erleichterung oder Frust ließ sich nicht sagen. Es verwirrte Tony (als ob nicht alles an Steve ihn verwirren würde) und wieder einmal wusste er nicht, was er tun sollte.
"Soll ich ...?" Er wedelte unbestimmt mit den Händen und deutete fragend hinter sich, um anzudeuten, dass er jederzeit gehen konnte.
"Nein. Genau genommen hast du Recht. Mir ist furchtbar langweilig." Ein vages Lächeln bahnte sich auf Steves Lippen. Es war nicht ganz ehrlich, nicht ganz glücklich, aber doch erleichtert. Und Tony wurde sich bewusst, dass manchmal selbst ein Steve Rogers lieber den Weg des geringeren Widerstands ging. "Mir ist so langweilig, dass ich mir selbst deine Predigten über Physik anhören könnte."
"Ach?" Tony verzog gespielt übertrieben die Augenbrauen und griff sich einen Stuhl aus der Ecke. "Na, wenn das so ist ..."
*
Steve weigerte sich weiterhin aus seiner Zelle herauszukommen und seine Gesundheit machte eine Abwärtsspirale. Er wirkte ausgezehrt, hatte weder Appetit noch Kraft, und versuchte dennoch, so lange wie möglich dem Schlaf zu entgehen. Tony konnte es ihm nicht einmal verübeln. Inzwischen überwachte JARVIS Steves Körperfunktionen Tag und Nacht und musste ihnen alle zwei Stunden ein Update über jegliche Veränderungen liefern.
Eines Tages kamen die roten Flecken: zahlreiche gerötete Stellen an Steves Körper, die sich über seine Haut verteilten wie ein Ausschlag. Zuerst vermuteten sie, dass es eine allergische Reaktion sein könnte, doch dann stellte sich heraus, dass es minimale Verbrennungen waren, die sich auch mit Spezialsalbe nicht behandeln ließen.
Mehr denn je fieberten sie auf die Ankunft von Thor hin, oder zumindest einer Antwort aus Asgard.
Wenn Tony nicht gerade die Artikel oder Bücher wälzte – inzwischen mehr aus Gewohnheit und Trotz, als aus der Hoffnung heraus etwas zu finden – oder mit Bruce arbeitete, war er bei Steve. Er erzählte von seinen kläglichen Versuchen, seine Nahkampffertigkeiten mit Hilfe von Natasha zu verbessern, gab vage Auskünfte über ihren Forschungsstand und plapperte Unmengen sinnloses Zeug. Einfach nur, um die Stille zu füllen und Steves gequälten Gesichtsausdruck zu vertreiben. Ganz oft jedoch saßen sie einfach da und schwiegen, Tony auf seinem unbequemen Designerstuhl, Steve auf seiner Pritsche und dazwischen eine Wand aus Panzerglas und unausgesprochenen Zweifeln.
Oft war Steve so müde, dass er kaum stehen konnte. Manchmal fühlte Tony sich genauso. Er schlief ebenfalls nur noch selten, was für Tony Stark-Verhältnisse bedeutete: praktisch gar nicht. Wenn, dann nickte er vor Steves Zelle ein, bis Natasha seinen Stuhl nach hinten kippen ließ und er japsend hochschreckte.
"Geh schlafen, Stark", sagte sie dann - betont neutral, aber auch nicht unfreundlich -, bevor sie den schlafenden Steve auf seiner Pritsche in Augenschein nahm. "Ich übernehme."
Ab und zu ertappte Tony Steve dabei, wie er durch seinen Raum schritt wie ein gefangenes Raubtier, die Augen schwarz wie die Nacht. Ein kleiner, verstohlener Teil von Tony war in solchen Momenten heilfroh über die Glaswand, denn Steves Lächeln jagte ihm Schauer über den Rücken. Etwas in seinem Blick schien zu sagen: "Ich werde gewinnen, Anthony. Es ist nur eine Frage der Zeit."
Und die Zeit verging. Sie verging viel zu schnell.
*
Sie warteten.
TBC
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Kapitel 4: Vertigo
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- With Tired Eyes, Tired Minds, Tired Souls, We Slept, One Tree Hill
Mehrere Tage gingen ins Land ohne eine Reaktion oder ein Lebenszeichen aus Asgard.
Pepper meldete sich und erinnerte Tony daran, dass er nicht umsonst ein Vermögen besaß, sondern eine Firma hatte, die gelegentlich nach seiner Aufmerksamkeit verlangte. Weil er nicht wollte, dass weder Pepper noch Fury Lunte rochen, schickte er zwei neue Entwürfe durch, um seinen guten Willen zu zeigen. Pepper wollte ihn daraufhin zu einer Aufsichtsratsversammlung schleppen, aber so weit ging sein guter Wille dann doch nicht.
Den Rest der Zeit verbrachte er damit, sich in seiner Werkstatt zu verkriechen und in nordische Mythologie einzulesen. Er ließ JARVIS durch das Internet und alle ihm zur Verfügung stehenden Datenbanken jagen. Wenn niemand da war, der ihm spöttische Blicke zuwerfen konnte, griff er sogar zu Bruces alten Büchern. Vili und Vé wurden tatsächlich kaum erwähnt. Tony bezweifelte, dass er etwas Neues finden würde, doch solange sie auf eine Antwort von Thor warteten, war es eines der wenigen Dinge, die er tun konnte. Stillsitzen war noch nie sein Ding gewesen.
Er verlor sich in Artikeln, Mappen und alten Büchern und hätte wohl den ganzen Tag so zugebracht, wenn sich sein Magen nicht irgendwann bemerkbar gemacht hätte. Er war es gewohnt, lange Zeit entweder ohne oder nur mit fraglich nahrhaftem Essen auszukommen. Wenn sein Körper protestierte und Tony dies tatsächlich bemerkte, dann wurde es allerdings höchste Zeit. Er verließ die Werkstatt und schlurfte nach oben in seine Küche, stand eine Weile unschlüssig vor den Küchenschränken und entschied sich gegen Lieferdienst und für eine Schüssel Fruit Loops. (Gesunde Ernährung? Ha, was war das?)
"Hey."
Tony schüttete vor Schreck die Hälfte der Milch über den Rand der Schüssel hinaus.
"Steve! Hey. Du musst wirklich aufhören dich von hinten an mich heranzuschleichen. Selbst wenn ich hier in der Küche bin und man durchaus damit rechnen sollte, dass auch andere zum Essen hierher kommen. Apropos Essen. Auch eine Schüssel?", ratterte Tony in einem halben Atemzug herunter, um zu überspielen wie sehr ihn Steves plötzliches Erscheinen aus dem Konzept gebracht hatte. Mit einem schiefen Grinsen deutete er auf die Packung Fruit Loops, die neben ihm auf der Küchentheke stand.
Steve winkte müde lächelnd ab. Und er sah wirklich müde aus. Es war die Art von körperlicher Erschöpfung, bei der man von seinen letzten Reserven zehrte um noch aufrecht zu stehen.
"Wo sind die anderen?"
"Unten im Labor. Also dachte ich, ich statte dir einen Besuch ab. Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden wollte."
"Okay. Schieß los." Während er antwortete, schenkte er Steve ein Glas Milch ein und drückte es ihm ungefragt in die Hand. Die letzten Untersuchungen hatten ergeben, dass er ohne ersichtlichen Grund ganze fünf Kilo abgenommen hatte.
"Weißt du, in letzter Zeit muss ich immer wieder an früher denken. An all die Dinge, an all die Menschen, die ich zurückgelassen habe." Steve drehte das Glas in seinen Händen ohne zu trinken. "Es gab da dieses Mädchen, Peggy. Sie hätte dir gefallen: Sie ließ sich von niemandem etwas sagen und hatte einen höllischen rechten Haken."
"Wer sagt, dass ich auf solche Frauen stehe?", fragte Tony und sie schmunzelten beide, als sie unweigerlich an Pepper dachten. Er räusperte sich. "Lebt sie noch? Ich meine, möchtest du sie treffen? Das lässt sich bestimmt einrichten."
Steve schüttelte energisch den Kopf. "Nein. Dafür ist der Zug bereits abgefahren. Peggy hat ein ganzes Leben hinter sich, eines ohne mich und ich gehöre da nicht mehr hinein."
Er stellte das Glas neben Tony ab und sah ihn nachdenklich an. "Aber es hat mich an etwas erinnert. Peggy und ich hatten nie die Gelegenheit mehr zu werden. Vielleicht dachten wir beide 'nach dem Krieg' und 'wenn alles vorbei ist'. Das Problem war, dass ich das Ende des Krieges nie erlebt habe."
"Mmmh."
"Ich will nicht, dass mir das noch einmal passiert." Das schiefe Lächeln, das sich dabei auf Steves Gesicht stahl, war interessant, wenn nicht sogar aufschlussreich. So lächelte jemand, der ein Geheimnis hatte, jemand der ein Vorhaben hatte, jemand der- Ah. Konnte das heißen, dass Steve jemand Neues gefunden hatte? Jemanden, mit dem er den Augenblick nutzen wollte?
"Okay, Cap", sagte Tony heiter, auch wenn er sich ganz und gar nicht danach fühlte. Eher so, als ob Happy ihn bei einer ihrer Box-Stunden versehentlich direkt am ARK-Reaktor getroffen hatte. Zuerst merkte man nur, wie einem die Luft aus den Lungen getrieben wurde. Aber dann. "Wer ist sie und soll ich ein Restaurant für euch mieten?"
"Nein, das meinte ich nicht damit. Du verstehst nicht-", warf Steve ein und blinzelte zur Decke. Seit langem hatte er wieder so etwas wie Farbe mit Gesicht. "Ich weiß, dass ich erst neulich gesagt habe, dass ich dich zu meinen Freunden zähle. Aber ... Es wäre auch nett, wenn wir ... wenn wir Zeit haben - nicht wenn das alles hier vorbei ist, denn wer weiß, wann das sein wird - also, wenn du möchtest ... könntenwirzusammenausgehen."
"Bitte?"
"Ausgehen. Essen, Kino, ein Lokal, was immer du möchtest."
Tony blinzelte. "Klar. Ich bin mir sicher, die anderen freuen sich über einen Vorwand, einen Teamausflug zu machen."
Noch ein bisschen mehr Farbe stieg in Steves Gesicht. Er druckste eine Weile herum bis er korrigierte: "Ich meinte nur wir zwei."
"Wir zwei. Als Freunde." Tony bemühte sich, seine Stimme am Ende des Satzes nicht hochgehen zu lassen, als ob es eine Frage wäre. Da gab es nichts zu fragen. Denn genau das waren sie: Freunde, nichts weiter.
"Nein." Steve machte einen Schritt nach vorne und stand auf einmal zu nah vor ihm. Tony machte einen Schritt zurück. Die Theke drückte in seinen Rücken, doch alles, was er wahrnahm, war Cap, Steve, der über ihm ragte und ihn so durchdringend ansah, dass Tony das Blut in den Ohren rauschte. Da war nichts mehr von Verlegenheit zu erkennen. Steve wirkte äußerst entschlossen. "Nicht als Freunde. Eine Verabredung. Willst du mit mir ausgehen?"
Tony wollte Einspruch erheben, denn das war eine absurde Frage, Steve interessierte sich nicht für ihn, er würde niemals-
"Oh, ich verstehe." Er schnaubte, verärgert, enttäuscht, als der Groschen fiel. Ein leises Glucksen bahnte sich seine Kehle hoch, weil es so absurd war, weil Tony absurd war, und weil er es einen Augenblick lang wirklich hatte glauben wollen. "Du bist das. Beinahe hättest du mich drangekriegt. Lass den Scheiß und verschwinde endlich. Geh raus aus ihm."
Wütend bohrte er einen Finger in Steves Brust. Und für einen kleinen Moment, der eine Ewigkeit dauerte, sackte Tony das Herz in die Hose. Denn in Steves Augen trat ein so zerschlagener Ausdruck, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Tony öffnete den Mund, um etwas zu sagen, wollte sich entschuldigen - oh Gott, was, wenn es wirklich Steve war, wenn er es ernst gemeint hatte - was wenn ...
"Warum sollte ich? Es gefällt mir hier."
Er bemerkte zu spät das Flackern in den Augen, genauso wie er zu spät bemerkte, dass sich alles an Steves Haltung verändert hatte. Plötzlich lehnte er über ihm, die Hände wie Schraubstöcke um Tonys Arme geschlungen und lächelte ihn mit dunklen Augen an.
"Weißt du, Anthony, du hast mir nie erzählt wie das da funktioniert." Eine Hand wechselte blitzschnell von Tonys Arm zu seinem Hals. Drückte ihn nach oben, halb gegen die Theke, halb gegen den Küchenschrank. Der andere Steve lächelte, als Tony erfolglos versuchte, den Griff um seinen Hals zu lockern und tippte wieder einmal mit seiner Fingerspitze auf die Mitte des ARK-Reaktors. "Vielleicht sollte ich selbst einmal nachsehen."
Noch bevor Tony etwas tun oder sagen konnte, lag Steves freie Hand an der Fassung des Reaktors, drehte, übte das genaue Ausmaß an Druck aus, um ihn herauszulösen. Genau so, wie Tony es ihm vor einer gefühlten Ewigkeit vorgeführt hatte. Dann gab es einen leichten Ruck und die Verbindung zwischen ARK-Reaktor und Magnet wurde getrennt.
Fuck.
Es dauerte keine zwei Sekunden, bis das Magnetfeld in sich zusammenbrach. Es würde weitere 180 Sekunden dauern, bis das scharfe, kriechende Ziehen in seiner Brust einsetzte, das er so sehr hasste. Der andere Steve betrachtete interessiert, ja beinahe fasziniert, das leuchtende Zentrum des Reaktors und drehte ihn in seiner freien Hand.
"Es ist zwar nicht der Tesserakt, aber vielleicht reicht es aus."
"Was ... hast du vor?"
"Etwas zu Ende bringen, dass ich vor langer Zeit angefangen habe."
"Lass mich raten: die Weltherrschaft an dich reißen?", fragte Tony abfällig. Die Antwort war ein Lächeln, so eiskalt, dass Tony darüber fast den wachsenden Schmerz in seiner Brust vergaß. "Mal ehrlich, wird das nicht langweilig? Wann lasst ihr Psychopathen euch - hgng - endlich was Neues einfallen?"
"Es geht um weitaus mehr, als nur um die Weltherrschaft", schnarrte der andere Steve, doch er schenkte ihm kaum Beachtung. Er strich mit dem Daumen über das leuchtende Glas des Reaktors und für einen kurzen Augenblick schien die Schwärze in seinen Augen zu flackern. "Es geht darum, wieder zu Göttern aufzusteigen."
Götter, schoss ihm durch den Kopf. Natasha hatte Recht.
"Götter werden überbewertet." Ein Husten bahnte sich nach oben, schüttelte ihn durch und sorgte dafür, dass Tony die Splitter in seiner Brust umso stärker wahrnahm. "Die, die ich kenne, sind laut oder haben himmelschreiende Vaterkomplexe. Und wenn ich das schon sage ..."
Er versuchte zur Seite hin auszuweichen, doch der Griff um seinen Hals saß bombenfest. Alles, was er erreichte, war an der Theke entlangzurutschen und dabei das Glas herunterzustoßen. Klirrend zersprang es am Boden.
"Oh, Anthony, wir wissen doch beide, dass es dir um etwas ganz anderes geht. Du willst ihn zurück haben, deinen Captain", sagte der andere Steve mit leiser, spöttischer Stimme. "Wenn er nur wüsste! Captain America, eine mangelhafte Kopie des Übermenschen, und der Mann aus Eisen, eine mangelhalfte Kopie von Howard Stark. Was für ein Paar."
Tonys rechte Hand tastete blind auf der Theke hinter sich, bis er gegen die volle Schüssel mit Fruit Loops stieß. Ein bisschen Milch schwappte über seine Finger. Der Griff um seinen Hals wurde kontinuierlich fester, schmerzte und - was am schlimmsten war - drückte ihm immer mehr die Luft ab. Das war noch nichts gegen die Splitter, die langsam aber sicher in Richtung seines Herzens krochen.
"Tag für Tag muss ich mit ansehen, wie du dich anbiederst wie ein räudiger Hund, der um Aufmerksamkeit bettelt. Träumst du nachts von ihm? Stellst du dir vor, er könnte dein entartetes Verhalten gutheißen? Oder deine krankhaften Neigungen sogar teilen? Oh, Anthony. Es wird Zeit, dass du der Wahrheit ins Gesicht siehst: Du bist nicht gut genug. Du wirst niemals gut genug sein. Aber der Captain würde dir das natürlich nicht ins Gesicht sagen. Er war schon immer zu höflich."
"Fick dich", spuckte er röchelnd hervor. Seine Finger schlossen sich jetzt um den Rand der Schüssel und mit einer letzten Kraftaufbietung schmetterte er sie gegen Steves Schläfe. Milch, Fruit Loops und Keramikscherben regneten zwischen ihnen herunter. Die Hand an seinem Hals ließ ihn los und Tony fiel wie ein Sack zu Boden.
"AH!" Steve hielt sich den blutenden Kopf, drückte den ARK-Reaktor gegen seine Brust und war einen Augenblick lang nur noch mit sich selbst beschäftigt. Nicht, dass Tony davon viel mitbekam, denn das Ziehen in seiner Brust war unerträglich geworden. Ächzend kroch er vorwärts, rutschte auf etwas Feuchtem aus (Blut? Wo kam das her?). Er musste zu Steve. Er brauchte den Reaktor. Er musste-
"Tony!" Tony war zur Seite gekippt und blickte schwer atmend nach oben. In Steves Augen flackerte es wieder - schwarz, blau, schwarz, blau, blau, blau wie der Himmel -, bis Panik darin aufleuchtete. "Was ..."
Plötzlich war ein Wirbelwind aus feuerroten Haaren in Tonys Blickfeld. Natasha hatte Steve gepackt und mit festem Griff auf den Boden gepinnt, bevor dieser reagieren konnte. Er wehrte sich nicht. Er lag einfach nur da und sah Tony entsetzt in die Augen.
"Cap! Was zur Hölle", schrie sie ihn an. Erst jetzt erfasste sie die Situation, sah den ARK-Reaktor, der leise über den Boden kullerte. Wie durch einen Schleier nahm Tony wahr, wie Natasha entsetzt nach Bruce rief, während Steve ihm weiterhin in die Augen starrte. Dann wurde alles schwarz.
Das letzte, was er hörte, war ein deftiges Fluchen auf Russisch.
*
Das erste, was er hörte, war das leise Summen des ARK-Reaktors. Sein Herz machte einen kleinen Satz, bis er das Geräusch mit seiner Brust in Verbindung brachte und daraus einen Schluss ziehen konnte: Ich lebe noch.
Er verkniff sich das Aufatmen - nicht zuletzt, weil sich seine Brust unangenehm empfindlich anfühlte -, sondern schlug die Augen auf. Drei ernsthaft dreinblickende Gesichter schwebten in seinem Sichtfeld.
"Hi", säuselte er und setzte ein schräges, müdes Grinsen auf. "Erinnert mich daran, dass ich nächstes Mal die Finger vom billigen Vodka lasse."
"Okay Leute, alles in Ordnung, wir können alle wieder heim. Stark ist immer noch eine Arschgeige." Clint klang schoddrig wie immer, doch um seinen Lippen spielte Erleichterung. Im Gegensatz dazu wirkte Bruce keineswegs amüsiert; er griff nach Tonys Handgelenk um dessen Puls zu messen. Erst da merkte Tony, dass er Verbände um seine Handflächen hatte.
"Die Scherben am Boden", erklärte Natasha, als hätte sie seine Frage geahnt. "Du bist hineingefallen."
"Du hattest beinahe einen Herzstillstand", fügte Bruce hinzu und schob sich die Brille auf der Nase höher. Die Tatsache, dass er nicht einfach bleich war, sondern immer wieder ein schattenhaftes Grün über sein Gesicht huschte, zeigte, wie sehr ihn das aus der Bahn geworfen hatte. "Sei froh, dass JARVIS uns so schnell gewarnt hat. Du solltest eigentlich im Krankenhaus liegen."
Mühsam setzte Tony sich auf und wimmelte Bruces Hände sowie jegliche Kommentare ab, die mit "Krankenhaus" zu tun hatten.
"Und Cap?", fragte er, doch keiner antwortete und alle bemühten sich seinem Blick zu entgehen. Sein Herz begann wieder schneller zu schlagen. Jedes Pumpen war eine schmerzhafte Erinnerung an das, was vorhin erst passiert war.
"Wo ist Steve?"
*
"Das ist nicht dein Ernst, oder?"
Steve zuckte kaum merklich zusammen und sah von seinen Händen auf, die er bis eben noch angestarrt hatte. In seinem Haaransatz war die fast verheilte Schramme zu sehen, die Tony ihm verpasst hatte.
"Tony! Bist du okay?" In seinen Augen lag unsägliche Erleichterung, zumindest bis sie wieder von diesem verkniffenen Gesichtsausdruck abgelöst wurde, den Tony nicht leiden konnte.
"Natürlich bin ich okay. Guck nicht so, sonst bekommst du Falten", schnappte er. Er ignorierte das Stechen in seiner Brust - Nachwehen seines Beinah-Herzanfalls - und hämmerte mit seiner bandagierten Hand gegen die Panzerglasscheibe, die sie beide trennte. Die Scheibe blieb vollkommen unbeeindruckt stehen. "Cap, was zum Teufel tust du da drin?"
"Da drin" war eine Art Panikraum, der nach außen hin hermetisch abgeriegelt war und jemanden notfalls für Wochen mit Nahrung, Wasser und allem versorgen konnte, was ein Mensch zum Überleben brauchte. "Da drin" war eigentlich für den Fall gedacht, dass Bruce einmal als Hulk die Kontrolle verlieren sollte. "Da drin" war zum Schutz gedacht, nicht als Gefängnis.
"Es war das einzige, was wir auf die Schnelle auftreiben konnten", zuckte Steve die Achseln. "Außerdem liegt es auf Bruces Etage, das heißt, er kann mich besser im Auge behalten."
"JARVIS, lass ihn da raus."
//Es tut mir Leid, Sir, aber Dr. Banner hat Ihre Zugriffcodes für diesen Raum bis auf Weiteres überschrieben.//
"Er hat was?" Tony schlug erneut gegen die Scheibe. "Manuellen Notvorgang einleiten."
Er ignorierte Steves entschuldigenden Blick und tippte wütend auf dem Nummernpad an der Tür einen Code ein. Es piepste und leuchtete zweimal rot auf.
//Zugang verweigert.//
"Tony, hör auf." Ein Kopfschütteln. Und wieder dieses furchtbare Stirnrunzeln. "Tut mir Leid", meinte Steve mit leiser Stimme. Es klang, als entschuldigte er sich für weitaus mehr als für die Tatsache, dass er mit Bruce gemeinsame Sache gemacht hatte.
"Steve, lass die Scheiße. Komm da raus. Das ist genau das, was ich verhindern wollte."
"Ich kann nicht herauskommen. Ich werde nicht herauskommen. Verstehst du denn nicht?" Steve trat nach vorne. Für einen Supersoldaten wirkte er seltsam klein hinter der Scheibe, beinahe hilflos. Es war ein Anblick, den Tony nicht von ihm gewohnt war. Es war ein Anblick, den er lieber wieder vergessen hätte. "Ich habe dich fast umgebracht!"
"Na und?", blaffte er zurück, als plötzliche Wut durch ihn rauschte. "Glaubst du, du bist der einzige? Glaubst du, du wirst der letzte sein? Ich bin Tony Stark, verdammt nochmal! Es gibt eine Warteliste für Leute, die mich umbringen wollen!"
Steve wirkte betroffen, verletzt, und für einen Moment konnte Tony regelrecht sehen, wie er alle seine eigenen Probleme in den Hintergrund schob, nur um sich über den Umstand zu sorgen, dass es noch mehr Leute gab, die Tony tot sehen wollten. Dann, ohne Vorwarnung, weiteten sich seine Pupillen und er lachte. "Mag sein. Aber ich werde derjenige sein, dem es gelingt."
Steve streckte seine Hand aus, drückte sie auf das Glas, genau gegenüber der Stelle, an der Tonys Reaktor lag. Wieder flackerte es in seinen Augen - Gier und Furcht, Furcht und Gier - und obwohl sie sich nicht berührten, stellten sich Tonys Nackenhaare auf. Nicht zum ersten Mal kämpfte er gegen die nagenden Zweifel an, dass dies vielleicht kein gute Ende nehmen würde.
Schließlich presste Steve die Stirn gegen die Scheibe als hätte er Schmerzen, doch als er aufblickte, war er wieder er selbst.
"Verstehst du nicht? Ich habe die Aufnahmen gesehen. Er- er ist-", er kämpfte mit den nächsten Worten, doch sie wollte ihm nicht über die Lippen kommen. "Er will den Reaktor und damit auch dich. Das kann ich nicht zulassen." Seine Stimme klang heiser und müde. So unendlich müde, wie hundert Nächte ohne Schlaf, wie tausend unbeendete Kämpfe, wie jemand, der kurz vorm Aufgeben stand. "Du solltest jetzt besser ... gehen."
Tony lagen Hunderte von Erwiderungen auf der Zunge, doch er schluckte sie alle hinunter und stapfte wütend davon.
*
Er war sauer. Sauer, dass Bruce ihn hintergangen hatte und diesen Unsinn mit der Zelle zwar nicht vorgeschlagen, aber dennoch zugelassen hatte. Er war sauer auf Steve, weil dieser alles so stoisch mitmachte. Vor allem war er aber sauer auf sich selbst, auf diese dumme Situation und dass er zugelassen hatte, dass es derartig eskalieren konnte. War er nicht das große Genie des Teams? Hätte er es nicht voraussehen und verhindern müssen?
Wenn er ehrlich sein sollte, dann hatte ihn der Vorfall übel mitgenommen. Vor den anderen hatte er sich zusammengerissen, wie er das immer tat, seit er als kleiner Junge gelernt hatte, dass weder Heulen noch Schwäche zeigen etwas brachten. Doch in der folgenden Nacht schreckte er aus dem Schlaf hoch, griff sich panisch an die Brust, nur um erleichtert festzustellen, dass der Reaktor noch da war. Danach versuchte er erst gar nicht wieder einzuschlafen.
Es dauerte eine Weile, bis Tony jemandem vom Team wieder unter die Augen treten konnte. (Es dauerte 47 Stunden und Tony hätte noch weitaus länger ausgehalten, wenn ihm nicht der Kaffee in seiner Werkstatt ausgegangen wäre. Das, und das nagende Bedürfnis Steve sehen zu wollen, zu wissen, ob er in Ordnung war.) Er fiel in Bruces Küche herein, weil sie am nächsten lag und klammerte sich an seinem Kaffee fest, während er eindringlich gemustert wurde.
"Es ist nicht unsere Schuld", sagte Bruce, weil der Kerl ein Hellseher war oder ihn inzwischen einfach zu gut kannte. "Und schon gar nicht deine, Tony."
Gleichgültig zuckte er die Achseln und blies den Dampf aus seiner Tasse. "Wie du meinst."
Bruces Blick bekam diesen Hauch von Mitgefühl, den er nur für Tony reserviert zu haben schien. Tony musste irgendwann eine ernste Unterhaltung mit ihm darüber führen, dass Mitleid wirklich nicht in Ordnung und er mindestens genauso hart drauf wie Nick Fury war. Irgendwann, aber nicht heute. Heute ließ er die Blicke über sich ergehen, bis Bruce ihm ein abgegriffenes Taschenbuch in die Hand drückte und ihn auffordernd ansah.
"Was soll ich damit?" Verständnislos stellte er den Kaffee beiseite, doch dann fiel sein Blick auf den Titel: "Der Herr der Ringe". Steves Lieblingsbuch. In der kurzen Zeit, in der er hier wohnte, hatte Tony schon mehrfach gesehen, wie er die Nase darin vergraben und die Welt um sich vergessen hatte.
"Er könnte ein bisschen Ablenkung gebrauchen", erklärte Bruce, ohne das auszusprechen, was er wirklich meinte: Geh zu ihm. Rede mit ihm.
Und Tony – weil er genau deswegen hier war, aber das niemals zugeben würde – zuckte erneut nonchalant die Achseln. "Kann ich mir vorstellen. Clint kennt keine anderen Gesprächsthemen außer beschissene Cartoons und Bogenschießen. Und Natasha … ich schwöre, sie hat außerhalb von Missionen noch nie ein Wort mit mir gewechselt. Außer, wenn sie mir ihre Missachtung zeigen will."
"Natürlich." Bruces Mundwinkel kräuselten sich, doch seine Augen blieben ernst und auffordernd. Grundgütiger, da hatte jemand tatsächlich zu viel Zeit mit Captain America verbracht. Tony wedelte mit dem Buch in der Luft herum, zwang ein Grinsen in sein Gesicht und murmelte etwas Vages und Unverständliches. Erst als er schon längst aus der Küche war und dem Gang zum Panikraum folgte, ging ihm auf, dass er seinen Kaffee vergessen hatte. Er spielte halb mit dem Gedanken, umzudrehen (und zu flüchten).
Dann bemerkte er die Stimmen.
"Es wird schlimmer, weißt du", hörte er Steve sagen und blieb abrupt stehen. "Bruce und Tony versuchen es herunterzuspielen, aber ich weiß es. Ist schwer, es nicht zu bemerken, wenn einem mehrere Stunden Erinnerungen fehlen."
Tony schluckte. Offensichtlich war das eine Unterhaltung, die nicht für seine Ohren bestimmt war. Seine Finger spielten mit den abstehenden Ecken des Buches, während er abwog, was er tun sollte. Noch konnte er sich bemerkbar machen oder umkehren. Noch zählte es nicht als Belauschen. Kurz fragte er sich, mit wem Steve da redete – Clint oder Natasha, es konnte nur einer der beiden sein, vielleicht auch JARVIS, doch dann versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, dass ihn das nichts anging.
"Wie war es für dich? Kannst du dich an die Zeit erinnern, in der du unter Lokis Kontrolle warst?"
Also Clint. Der schien merklich zu zögern, denn es herrschte eine lange, angespannte Pause. Die Pappe war rau unter Tonys Fingern, und er stellte sich vor, wie oft Steve die Buchdeckel angefasst haben musste, wie oft er vielleicht einfach nur dasaß, mit den Fingern über den geknickten Buchrücken strich. Tony konnte nichts mit Büchern anfangen, doch er konnte verstehen, warum sie für Steve wichtig waren. Dass er manchmal lieber Dinge in den Händen hielt, als nur ihr Abbild auf einem Bildschirm zu sehen.
"Teilweise", gab Clint schließlich zu und sorgte dafür, dass Tony aus seinen Gedanken hochschreckte. "Viele Erinnerungen sind verschwommen oder kaum da. Aber ich erinnere mich daran, wie es sich angefühlt hat. Als ob dich jemand unter Wasser drückt. Alles ist so weit weg und gedämpft, dass du das Gefühl hast, gar nicht da zu sein. Wenn du genug strampelst und dich wehrst, kannst du vielleicht an der Oberfläche ein paar Wellen erzeugen. Manchmal funktioniert das sogar. Aber die meiste Zeit hört niemand, wie laut du schreist."
Das Kratzen eines Stuhls über den Boden. Leises Tappen. Jemand ging auf und ab – vermutlich Steve. Die Schritte hatten einen hohlen Klang, der wahrscheinlich durch die Übertragung der Lautsprecher zustande kam.
"Ich bin einfach ... weg. Und dann wieder da. Als ob jemand einen Schalter umgelegt hat. Und ich wache auf, ohne zu wissen, was ich getan habe. Immer und immer wieder. Und da ist … etwas. Etwas, das mich hindert Dinge auszusprechen. Am schlimmsten sind die Fragen. Wo bin ich?, Wie viel Zeit habe ich diesmal verloren?, Was habe ich getan? und-"
"Wen habe ich getötet?", beendete Clint den Satz mit einer Bestimmtheit, die verriet, dass er genau wusste, wovon Steve redete. Tony hatte nie darüber nachgedacht, wie es für Clint gewesen war, ob ihm die Leute von SHIELD das Leben schwer gemacht hatten, ob sie ihn jetzt hassten, für die Dinge, die er unter Lokis Einfluss getan hatte. Vielleicht gab es noch mehr Gründe als "nicht näher definierten SHIELD-Kram", wegen denen Natasha und Clint nach den Chitauri erst einmal abgetaucht waren.
"Cap-" Clint hielt inne, wieder ertönten Schritte und Tony bekam erst dann mit, dass er entdeckt worden war, als Clint um die Ecke linste und ihn hinterhältig anfunkelte. "Stark. Du wirst schon erwartet."
Was? Wie? Wo? Dabei hatte er doch nur geatmet, vielleicht sein Gewicht verlagert, maximal mit einer Ecke des Buches gespielt. Clint hätte niemals- Doch Clint packte ihn am Arm und zog ihn hinter sich her. Verdammte Ninjas.
Er wurde mehr geschubst, als dass er nach vorne trat. Von hinten glaubte er Clints Stimme etwas in sein Ohr zischen zu hören wie "Bring das in Ordnung" oder "Sei bloß kein Arschloch", doch als er sich umdrehte, marschierte der Meisterschütze schon den Gang zurück.
"Steve. Hey." Tony fummelte an dem Buch herum und für einen Augenblick war er wieder in der Küche, gegen die Theke gepresst, in seinem Wohnzimmer, gelähmt auf seiner Couch. Obie, der über ihn gebeugt war, während er langsam aber sicher starb. Obies höhnisches Halblächeln wurde zu dem von Steve, nur dass Steve diese furchtbaren schwarzen Augen hatte, diese berechnende Kälte in der Stimme und …
"Tony."
… Steve, der ihn mit traurigen blauen Augen ansah und im Moment weder Captain America noch der mordlustige Andere war. Er war der einfache Kerl aus Brooklyn, der zu nett für dieses Zeitalter und zu gut für Tony war und das alles nicht verdient hatte. Tony zwang ein schwaches Lächeln auf seine Lippen.
"Hey Großer. Ich hab gehört, dass dir langweilig ist." Demonstrativ zeigte er das Buch, bevor er es in das Fach legte, mit dem man Essen und sonstige Gegenstände in Steves Zelle bekam, ohne direkten Kontakt zu haben.
"Es tut mir so Leid, Tony. Ich kann verstehen, wenn du-"
"-absolut empört bin, dass sie dir kein anständiges Bett da reingestellt haben? Ja."
"Tony-"
"Cap", warf er ein, schärfer und eindringlicher als gewollt. Dann winkte er ab, beiläufig, gleichgültig, wie er alles beiseite wischte, das ihm Angst machte. "Es ist okay. Wirklich."
Steve ließ die Schultern hängen, ob aus Erleichterung oder Frust ließ sich nicht sagen. Es verwirrte Tony (als ob nicht alles an Steve ihn verwirren würde) und wieder einmal wusste er nicht, was er tun sollte.
"Soll ich ...?" Er wedelte unbestimmt mit den Händen und deutete fragend hinter sich, um anzudeuten, dass er jederzeit gehen konnte.
"Nein. Genau genommen hast du Recht. Mir ist furchtbar langweilig." Ein vages Lächeln bahnte sich auf Steves Lippen. Es war nicht ganz ehrlich, nicht ganz glücklich, aber doch erleichtert. Und Tony wurde sich bewusst, dass manchmal selbst ein Steve Rogers lieber den Weg des geringeren Widerstands ging. "Mir ist so langweilig, dass ich mir selbst deine Predigten über Physik anhören könnte."
"Ach?" Tony verzog gespielt übertrieben die Augenbrauen und griff sich einen Stuhl aus der Ecke. "Na, wenn das so ist ..."
*
Steve weigerte sich weiterhin aus seiner Zelle herauszukommen und seine Gesundheit machte eine Abwärtsspirale. Er wirkte ausgezehrt, hatte weder Appetit noch Kraft, und versuchte dennoch, so lange wie möglich dem Schlaf zu entgehen. Tony konnte es ihm nicht einmal verübeln. Inzwischen überwachte JARVIS Steves Körperfunktionen Tag und Nacht und musste ihnen alle zwei Stunden ein Update über jegliche Veränderungen liefern.
Eines Tages kamen die roten Flecken: zahlreiche gerötete Stellen an Steves Körper, die sich über seine Haut verteilten wie ein Ausschlag. Zuerst vermuteten sie, dass es eine allergische Reaktion sein könnte, doch dann stellte sich heraus, dass es minimale Verbrennungen waren, die sich auch mit Spezialsalbe nicht behandeln ließen.
Mehr denn je fieberten sie auf die Ankunft von Thor hin, oder zumindest einer Antwort aus Asgard.
Wenn Tony nicht gerade die Artikel oder Bücher wälzte – inzwischen mehr aus Gewohnheit und Trotz, als aus der Hoffnung heraus etwas zu finden – oder mit Bruce arbeitete, war er bei Steve. Er erzählte von seinen kläglichen Versuchen, seine Nahkampffertigkeiten mit Hilfe von Natasha zu verbessern, gab vage Auskünfte über ihren Forschungsstand und plapperte Unmengen sinnloses Zeug. Einfach nur, um die Stille zu füllen und Steves gequälten Gesichtsausdruck zu vertreiben. Ganz oft jedoch saßen sie einfach da und schwiegen, Tony auf seinem unbequemen Designerstuhl, Steve auf seiner Pritsche und dazwischen eine Wand aus Panzerglas und unausgesprochenen Zweifeln.
Oft war Steve so müde, dass er kaum stehen konnte. Manchmal fühlte Tony sich genauso. Er schlief ebenfalls nur noch selten, was für Tony Stark-Verhältnisse bedeutete: praktisch gar nicht. Wenn, dann nickte er vor Steves Zelle ein, bis Natasha seinen Stuhl nach hinten kippen ließ und er japsend hochschreckte.
"Geh schlafen, Stark", sagte sie dann - betont neutral, aber auch nicht unfreundlich -, bevor sie den schlafenden Steve auf seiner Pritsche in Augenschein nahm. "Ich übernehme."
Ab und zu ertappte Tony Steve dabei, wie er durch seinen Raum schritt wie ein gefangenes Raubtier, die Augen schwarz wie die Nacht. Ein kleiner, verstohlener Teil von Tony war in solchen Momenten heilfroh über die Glaswand, denn Steves Lächeln jagte ihm Schauer über den Rücken. Etwas in seinem Blick schien zu sagen: "Ich werde gewinnen, Anthony. Es ist nur eine Frage der Zeit."
Und die Zeit verging. Sie verging viel zu schnell.
*
Sie warteten.
TBC