Die Ballade von Tony und Steve
Dec. 23rd, 2012 06:09 pm![[personal profile]](https://www.dreamwidth.org/img/silk/identity/user.png)
Autor:
ayascythe
Fandom: The Avengers (MCU)
Pairing: Steve Rogers/Tony Stark
Rating: R (NC-17 für das letzte Kapitel)
Language: Deutsch/German
Wortanzahl: 45.242
Einstufungen/Warnungen: Mystery, Drama, Angst, Slash
Beta:
3ngel
Disclaimer: Das Avengers-Universum gehört Marvel und jegliches Copyright liegt bei ihnen. Ich habe mir lediglich die Charaktere ausgeliehen, um ein bisschen mit ihnen zu spielen. Ich mache hiermit kein Geld.
Zusammenfassung: Iron Man erschießt Captain America. Das ist nicht der Anfang, es ist nur das Ende. Angefangen hat es viel, viel früher: mit dem Tesserakt, mit nächtlichen Ausflügen, mit schwarzen Augen, mit einer Krankheit und mit einem Rätsel, für das selbst Tony keine Lösung findet. Angefangen hat es mit vielen kleinen Dingen, doch das Ende bleibt gleich: Tony erschießt Steve.
A/N: Mein Beitrag zum
deutsch_bigbang 2012. Inhaltlich schließt die Story direkt an die Geschehnisse des Avengers-Film an. Den gesehen zu habe wären also von Vorteil.
Dies ist mit weitem, weitem Abstand die längste Fanfic, die ich jemals geschrieben habe. Es war eine knappe Sache mit viel Haareraufen und inzwischen sehe ich nur noch Buchstaben, aber es ist fertig. ^^
Ich kann wahrscheinlich gar nicht wirklich ausdrücken, wie sehr ich manchen Leuten dankbar bin, aber trotzdem:
3ngel, die mit einer Engelsgeduld mein Geheule ertragen hat, tolle Vorschläge gebracht hat und generell eine wundervolle, konstruktive Betaleserin war.
louphoenix, die selbst auf dem Weihnachtsmarkt und mit Glühwein noch mit mir diskutiert hat.
sweetestremedy für großartige Fanart und ebenso liebe Unterstützung. J., weil es ohne ihn die Wasserschlange nicht gäbe. Ohne euch wäre diese Fic entweder nie fertig geworden oder ein absolutes Desaster. DANKE DANKE DANKE.

AO3- und FF.de-Linkswerden nachgeliefert sind jetzt oben. Und ich geb mir jetzt die Kante. ^^
Prolog | Kapitel 1: Wahrscheinlichkeiten | Kapitel 2: Finsternis | Kapitel 3: Schlaflos | Kapitel 4: Vertigo | Kapitel 5: Stille | Kapitel 6: Sturm | Kapitel 7: Narben | Epilog
AO3 | FF.de
Fanart-Masterpost von
sweetestremedy: LJ | AO3
Seht es euch an, das Bild mit dem Feuerwerk ist einfach nur alsdfjaösdfjöaslkdfj. *fiept begeistert*
Die Ballade von Tony und Steve
Doch jeder tötet, was er liebt,
Das hört nur alIzumal!
Der tuts mit einem giftigen Blick,
Und der mit dem Schmeichelwort schmal.
Der Feigling tut es mit dem Kuss,
Der Tapfre mit dem Stahl.
Die einen töten ihr Lieb, wenn sie jung,
Die andern, wenn sie alt;
Der drosselt mit den Händen der Lust,
Mit den Händen von Golde der krallt:
Der Beste braucht ein Messer, denn so
Wird bald der Tote kalt.
Der liebt zu leicht, und der zu lang,
Der kauft, verkaufen tut der.
Der tut die Tat mit Zähre viel,
Der hat keinen Seufzer mehr:
Denn jeder tötet, was er liebt,
Doch nicht jeder stirbt nachher.
- Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading, Oscar Wilde
Prolog
"Wo ist Loki?!", rief Steve durch das Interkom. Die bessere Frage war: Welches war der richtige Loki?
Während Tony die Umgebung sondierte, markierte JARVIS allein sechs verschiedene Ziele auf den Dächern und Trümmern um sie herum. Der Trick wurde leider nicht besser, ließ sich aber weder mit Scannern noch Sensoren umgehen und blieb daher genauso effektiv wie eh und je. Tony liebte Magie. Er liebte sie wie Ärzte, Karies und Aufsichtsratsversammlungen.
Trotz regulierter Temperatur in der Rüstung rann ihm Schweiß die Stirn herunter. Wenn nicht bald etwas passierte, würde Steve Loki tatsächlich finden und das war das letzte, was Tony jetzt gebrauchen konnte. Ihm rannte die Zeit davon. Er musste handeln. Sofort.
"Loki auf 8 Uhr!"
Er deutete wahllos auf eine der Projektionen und weil Steve seinen Anweisungen inzwischen genauso blind folgte wie umgekehrt, drehte dieser sich in die Richtung. Der Schild wurde durch die Luft geschleudert, traf – und flog sauber durch die Gestalt hindurch. Er blieb zwischen Schutt und Trümmern liegen.
"Das war der Falsche!" Die Worte gingen fast im Lärm einer weiteren Explosion unter, doch Tony hörte den Ärger, die Verwunderung über die Fehlinformation heraus.
Steve stand keine zwei Meter von ihm entfernt, vielleicht nicht hilflos, aber ahnungslos und ohne Schild. Angreifbar. Nicht zum ersten Mal war Tony dankbar für die Gesichtsplatte, den Stimmenmodulator, all die Dinge die ihn von der Außenwelt abschirmten und es praktisch unmöglich machten ihn zu lesen.
Ein Versuch. Danach würden sie wissen, was er vorhatte. Er hatte einen Versuch und der musste sitzen. Ein leises Sirren ertönte, als er die Hand mit dem glühenden Repulsor erhob.
"Iron Man?"
Selbst unter der Maske konnte er Steves Verwirrung herauslesen, die langsam dämmernde Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte. Und, oh, es war so einfach. Zu zielen, die Schwachstellen in Steves Rüstung zu lokalisieren, die richtige Menge an Energie zu berechnen, um seine Rüstung zu durchschlagen. Es war so erschreckend einfach, dass Tony sich fragte, warum es noch niemand vor ihm getan hatte. Dann fiel es ihm wieder ein: Den Bösewichten der Welt hatte allen ein entscheidender Vorteil gefehlt.
"... Tony?"
Captain America vertraute Iron Man. Er vertraute Iron Man mit seinem Leben.
"Sorry, Cap."
Iron Man schoss.
Kapitel 1: Wahrscheinlichkeiten
Wenn du an einem anderen Ort aufwachen kannst.
Wenn du zu einer anderen Zeit aufwachen kannst.
Warum kannst du nicht als ein anderer Mensch aufwachen?
- Fight Club, Chuck Palahniuk
4 Monate zuvor
Es hätte nicht so einfach sein sollen. Es hätte nicht so einfach sein sollen, mit einer Atombombe durch ein Dimensionstor in den sicheren Tod zu fliegen und dann wieder aufzuwachen. Tony fühlte sich, als hätte er bei einem Mathetest geschummelt - und bitte, als ob er Schummeln jemals nötig gehabt hatte. Er war ein Genie.
Trotzdem stand er hier, inmitten der Trümmer von Manhattan, und konnte nicht anders, als daran zu denken, wie wenig es für Yinsens Tod gebraucht hatte. Den seiner Eltern. Phil Coulson. All die Opfer, die noch nicht gezählt werden konnten, weil ihre Körper zwischen den Trümmern lagen.
Menschliche Körper waren so fragil. Ein zerdrücktes Autodach, ein Riss im Körpergewebe, eine kleine, metallene Kugel in den Eingeweiden. Im Vergleich dazu eine Liste der Dinge, die Tony überlebt hatte: Schrapnel-Splitter in der Nähe seines Herzens, eine schleichende Palladium-Vergiftung, einen nordischen Alien-Gott und seine Armee, eine Atombombe, Unmengen von Alkohol. Sein Überleben trotzte jeder Wahrscheinlichkeit.
Wahrscheinlichkeiten sind nicht fair.
"Warum so betrübt, Mann aus Metall? Wir haben gewonnen. Das ist ein Anlass zum Feiern!"
Ein lautes Dong ertönte, als Thor ihm mit der Hand auf den Rücken klopfte. Mit der anderen balancierte er einen Stahlträger auf der Schulter, auf seinem Gesicht prangte ein strahlendes Grinsen. Diese Alien-Götter, stets gut gelaunt. Irgendwann einmal musste er eine ausgiebige Bar-Tour mit Thor machen. Irgendwann. Wenn ihm nicht mehr jeder Knochen im Leib weh tat.
"Sicher, Großer", erwiderte Tony mit einem schiefen Grinsen und war dankbar, dass sich plötzlich JARVIS über den Lautsprecher in seinem Ohr meldete.
//Sir, auf dem Dach des Stark Towers scheint es Komplikationen mit dem Tesserakt zu geben.//
Oder vielleicht auch nicht.
"Sag ihnen, sie sollen mit dem In-die-Luft-fliegen warten, bis ich da bin."
Seufzend ließ er die Gesichtsplatte herunterklappen. Nach einem kurzen Moment der Neuorientierung - richtig, ein älteres Rüstungsmodell, Mark VII war seit dem Absturz unbrauchbar - erwachten die Repulsor-Antriebe spuckend zum Leben und er hob ab.
Verglichen mit dem Rest von Manhattan war der Stark Tower noch verhältnismäßig gut davon gekommen. Trotzdem verzog Tony unglücklich das Gesicht, als er beim Aufstieg zum ersten Mal einen richtigen Überblick über die Schäden bekam: zersplitterte Fenster, Löcher in der Fassade, verbogene Stahlträger und von seinem Logo mochte er gar nicht erst reden.
Oben auf dem Dach war ein Helikopter geparkt, während mehrere SHIELD-Agenten aufgeregt durcheinander wuselten und generell eine Aura von Wichtigkeit verbreiteten - oder es zumindest versuchten. Von Tonys Standpunkt aus wirkten sie eher wie ein Haufen Ameisen, die einen weggeworfenen Haufen Zuckerwatte entdeckt hatten.
"Was ist los?"
Cap- Steve stand inmitten der aufgeregten Agenten und sah etwas orientierungslos aus, als Tony neben ihm landete. Eine der Agenten inspizierte seine bloßen Hände, bevor er sie bestimmt ihrem Griff entzog.
"Der Tesserakt …"
"Er hat pulsiert." Die junge Frau, die eben noch Steve untersucht hatte, dreht sich um. "Wir vermuten, dass es sich um eine Art Nachwehe gehandelt hat, nachdem das Objekt kürzlich so viel Energie abgegeben hat. Leider fand die Reaktion statt, als einer der Agenten den Tesserakt gerade aus der Vorrichtung entfernen wollte und ist dabei von den Füßen gerissen worden. Der Captain war so geistesgegenwärtig und hat das Objekt gefangen."
"Sie wollen nicht herausfinden, was passiert, wenn er es nicht getan hätte." Tony ließ die Gesichtsplatte hochklappen und sah Steve mit hochgezogener Augenbraue an. "Du hast ihn berührt?"
"Ja." Steves Tonfall wirkte entgeistert, beinahe abwesend, so als hätte er die Situation noch nicht wirklich begriffen. Für einen minimalen Augenblick wurden seine Augen dunkel, die Pupillen unnatürlich geweitet, und Tony bekam allmählich den Verdacht, dass er unter Schock stand. Doch der Moment war so schnell vorüber, wie er gekommen war, und Steve schaute kopfschüttelnd in die Richtung, in der der Tesserakt abtransportiert wurde. "Wo wird er hingebracht ...?"
Unvermittelt griff Tony nach Steves Händen und im Gegensatz zu eben wehrte dieser sich nicht gegen die Berührung. Es waren riesige Pranken, die trotzdem auf seltsame Weise elegant wirkten. Ganz im Gegensatz zu Tonys eigenen Händen, die unzählige Schnitte, Schwielen und Narben von Jahren in der Werkstatt davon getragen hatten. Caps dagegen waren makellos.
"Keine Verbrennungen. Nicht ein Kratzer. Muss wohl am Superserum liegen." Tony musste sich das Aufatmen verkneifen. Immerhin einer, der nicht so zerbrechlich war, wie der Rest. Jemand, der nicht so einfach sterben konnte. Wie auf Kommando ließ er Steves Hände aus seinem Griff fallen, ballte die behandschuhten Finger einmal kurz zusammen und klopfte ihm genauso auf den Rücken, wie es Thor bei ihm eben getan hatte.
"Mach dir nichts daraus", sagte er heiter. "Deine Hände sind in Ordnung. Das heißt, du kannst problemlos all die glorreichen Dinge tun, die man mit Händen so tut. Shawarma essen eingeschlossen."
Steve blinzelte ihn eulenhaft an, verwirrt, so als wäre er noch immer nicht ganz da. Oder als hätte er einen besseren Kommentar erwartet. Doch alle Sprüche, die Tony auf der Zunge lagen, schmeckten fad und geistlos. (Er war fast gestorben und hatte Manhattan gerettet, okay? Sogar Tony Stark durfte einen schlechten Tag haben.)
"Sicher, Tony."
"Man sieht sich unten, Cap." Tony nickte, klappte die Gesichtsplatte herunter und flog davon, bevor das ganze noch peinlicher werden konnte.
*
Der Tesserakt war sicher in der Vorrichtung verstaut, die Tony, Bruce und Selvig in Zusammenarbeit mit Jane Foster entworfen hatten. Keine Erschütterung, nicht einmal eine Explosion, konnte ihn jetzt noch gefährlich machen. Außerdem hatte er jetzt den unschlagbaren Bonus, dass man damit durch Dimensionen reisen konnte.
Thor und Loki standen sich gegenüber und - okay. Ja. Tony musste sich fast die Finger abbeißen, um die Bondage-Witze im Zaum zu halten. Selbst dann entwischten ihm ein paar eindeutig zweideutige Kommentare dazu. Glücklicherweise gingen sie an den beiden Herren aus dem All und dem jungfräulichen Supersoldaten unbemerkt vorüber. Natasha sah ihn zwar vernichtend an, doch Bruce polierte unerschüttert seine Brille und Clint - Clint grinste. Tony beschloss, dass er Clint mochte. Wenige Leute hatten heutzutage noch genug Wertschätzung für anständigen Sarkasmus.
Niemand trauerte darum, dass der Tesserakt aus dieser Welt verschwinden musste. Nicht einmal Selvig, der wahrscheinlich für den Rest seines Lebens genug von dem Würfel hatte. Nicht einmal Tony, der die Notizen seines Vaters kannte und wusste, was für einen Schub seine Forschungen zur sauberen Energie erhalten könnten. Schon gar nicht Steve, der den blauen Würfel nicht eine Sekunde aus den Augen ließ und ihn wie hypnotisiert anstarrte. Von ihnen allen war er derjenige, der schon einmal erlebt hatte, was passierte, wenn außerirdische Macht missbraucht wurde.
Wirklich. Tony konnte zufrieden sterben, wenn er wusste, dass das Ding nie wieder auf der Erde landen würde.
*
Für eine Weile ging der Rest der Avengers getrennte Wege.
Clint und Natasha verschwanden, um geheimen, nicht näher definierten Kram für SHIELD zu erledigen. Aufklärungsmissionen, Informationsbeschaffung, neue Agenten anheuern – es war nicht weiter wichtig für Tony. Selbst wenn er es wissen wollte, hätte er SHIELDs Server innerhalb weniger Minuten knacken und sich die Information selbst ziehen können. (Man ließ Tony Stark nicht in seine Systeme herein, ohne dass er sich nicht eine Hintertür offen ließ. Oder mehrere.) Was zählte war, dass sie ihm eine Nummer gaben, unter der er einen von ihnen immer erreichen konnte.
"Falls dich wieder irgendwelche Götter aus dem Fenster werfen, Stark", meinte Clint gelangweilt, doch in seinen Augen funkelte gut gemeinter Spott.
"Lass dich nicht von Zwergen entführen, Legolas." Tony grinste und ja, er mochte Clint.
Steve hatte vor, mit seiner Maschine einen Trip quer durch die Staaten zu machen. Wenn es jemand anderes gewesen wäre, irgendjemand anderes, hätte Tony gelacht. Denn mal ernsthaft? Captain America. Auf einem Roadtrip. Mit seinem Motorrad. Das stank nach alten Classic Rock-Liedern. Allerdings handelte es sich um Steve und, Himmel nochmal, der Mann war 70 Jahre eingefroren gewesen. Er hatte sich den abgedroschensten Roadtrip der Welt verdient, wenn es ihn nur glücklich machte. Außerdem war es bei so viel Vorfreude schwer, sich über ihn lustig zu machen.
"Erst der Krieg, dann die Zeit im Eis … es gab nie viele Gelegenheiten, darüber nachzudenken, was ich will. Aber jetzt habe ich sie. Ich möchte durch das Land reisen. Einfach nur etwas für mich selbst tun. Verstehst du, was ich meine?"
Steve sah so verlegen aus. Als ob er sich tatsächlich dafür rechtfertigen müsste, dass er etwas Eigennütziges tun wollte, nachdem er sich jahrelang für sein Land aufgeopfert hatte.
"Ja, ich denke schon", log Tony. Sein Leben mochte nicht immer frei gewesen sein, nicht unter seinem Vater, nicht unter Obie, doch er hatte er mehr Impulsen nachgegeben als gut für ihn war. Verdammt, sein ganzes Leben bestand nur aus Impulsen und schlechten Entscheidungen.
Steve lächelte dankbar und Tony kam sich wie der größte Versager der Welt vor. Er hasste Steve dafür, dass er so gutherzig und perfekt war und dabei noch so verteufelt gut aussah. Er hasste Steve dafür, dass er in Tony immer nur den Egoisten gesehen hatte. Denn wenn Captain America so etwas über einen dachte, dann musste es ja stimmen, richtig? Tony hasste ihn und doch … und doch war da ein Kribbeln in seinen Fingerspitzen und eine Wärme in seinem Bauch, die ihn verunsicherte.
"Na dann", sagte er unbeholfen und klopfte wieder einmal auf Captain Americas muskelbepackten Oberarm. "Viel Spaß bei deinem Selbstfindungstrip, Cap. Besuch das größte Garnknäuel der Welt für mich ja? - Oh, guck nicht so. Du wirst es lieben, glaub mir."
*
Tony gab keinem von ihnen seine Nummer, aber das war okay. Sie wussten alle, wo er zu finden war.
*
Zum ersten Mal in seinem Leben machte Tony die Erfahrung, immer jemanden in Reichweite zu haben, der seine Hirngespinste tatsächlich verstand. Sein Vater hatte nie die Zeit oder Geduld gehabt, um mit ihm über Wissenschaft zu reden, Obie – nun ja – und die wenigen Freunde, die er hatte, schenkten ihm bestenfalls ein müdes Lächeln, wenn er von Teilchenbeschleunigern und Neutrinos anfing.
Mit Bruce im Tower konnte er jedoch einfach in den Aufzug steigen, drei Stockwerke nach unten fahren und sagen: "Hey Bruce, ich habe da eine Idee ..." Und weil Bruce ihn nicht nur verstand, sondern auch höflich war, sagte er Tony nicht sofort, dass er vollkommen übergeschnappt war. Meistens zumindest.
Nach einer Woche und drei Tagen diskutierten sie die Möglichkeiten, die Nanotechnologie bieten konnte, um Bruces Zustand zu verändern, womöglich sogar zu kontrollieren. Vier Tage später verwarfen sie die Idee, da Bruces Zellmaterial in einem Testlauf beängstigende Reaktionen zeigte. (Ein Hulk mit der Fähigkeit zu übernatürlich schneller Zellreproduktion und der sich eventuell vier neue Arme wachsen lassen konnte? Nein, danke.)
Nach einem Monat und sieben Tagen machte Tony den Vorschlag, dass sie Teleportation und Zeitreisen erforschen sollten. Bruce sah ihn einfach nur an. "Was? Es wäre praktisch!", meinte er mit Unschuldsmiene, und wenn er dabei an seinen eigenen Vater dachte, oder daran, wie sehr er damit Cap beeindrucken könnte, so war das absoluter Zufall.
(Bruce war bereits eineinhalb Monate da, als Tony und Pepper Schluss machten. Es war eine Trennung in beidseitigem Einverständnis, weil Pepper schon immer die Vernünftige von ihnen war und selbst Tony sich nicht länger etwas vormachen konnte. Es hätte auf Dauer einfach nicht funktioniert und Tony hatte zu wenig Freundschaften, als dass er diese riskieren wollte.
Eine weitere gescheiterte Beziehung. Ein weiterer Strich in der Liste. Nichts Neues im Hause Stark.
Obwohl er die Trennung nicht explizit ansprach, zeigte Bruce bemerkenswert viel Einfühlungsvermögen. Vielleicht, weil er immer noch regelmäßig mit Betty telefonierte und seine Gefühle für sie so offensichtlich waren, dass selbst Tony sie auf zehn Meilen gegen den Wind riechen konnte. Bruce wusste aus erster Hand, wie es war, jemanden gehen zu lassen, weil es einfach besser war. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Bruce Bruce war und mehr Dinge durchschaute, als die meisten Leute ihm zutrauten.
Er stellte keine nervigen Fragen, sagte nicht, wie Leid es ihm tat. Doch er brachte dem verkaterten Tony morgens ein Glas Wasser und Kopfschmerztabletten mit ins Labor, warf eine neue Theorie in den Raum, wenn Tony zu lange schweigend vor sich hinbrütete und ließ ihn in Ruhe, wenn er sich für Tage am Stück in die Werkstatt zurückzog. Außerdem fand Tony heraus, dass Bruce ein mörderisches Curry kochen konnte.
Alles in allem war es eine der besseren Trennungen, die Tony in seinem Leben durchmachen musste. Pepper war wundervoll, Pepper war perfekt, und wenn er ehrlich sein sollte, wusste er schon immer, dass sie zu gut für ihn war. Trotzdem brauchte er eine ganze Weile, um sich wieder an die Leere auf der linken Betthälfte zu gewöhnen.)
Bruce war zwei Monate und sieben Tage Gast des Stark Towers und Tony drauf und dran seine Anwesenheit für gegeben zu nehmen.
"Bitte?", meinte er deshalb, als hätte er eben nicht jedes Wort genau verstanden.
"Ich sagte, es wird langsam Zeit für mich weiter zu ziehen. Es war eine tolle Erfahrung, Tony. Aber ich kann deinen Gastfreundschaft nicht noch länger beanspruchen." Bruce lächelte dieses furchtbar sympathische Lächeln, das kleine scheue, bei dem man ihm nichts übel nehmen konnte. Allein dafür wollte Tony ihn hassen.
"Natürlich", sagte er nur und grinste trocken zurück. Natürlich wollte Bruce gehen. Natürlich konnte nicht zumindest einmal alles so bleiben, wie es war. Natürlich war Tony am Anfang der nächsten Woche wieder allein im Tower.
Alles wie immer. Nichts Neues im Hause Stark.
*
Bruce war keine fünf Tage fort, als Captain America vor Tonys Tür stand.
Was sagte man dazu.
*
"Ähm. Hi." Steve sah aus wie die Fleisch gewordene Unbeholfenheit, als die Fahrstuhltür zu Tonys Penthaus mit einem stilvollen Ding aufglitt und er zögernd eintrat. "Ich wusste nicht, wo ich meine Maschine abstellen sollte, aber die Dame am Empfang meinte, sie kann sich darum kümmern … Ich hoffe, das geht in Ordnung?"
Er machte ein paar Schritte in den Salon hinein, bevor er stehen blieb und hinter sich deutete, die Geste aber mitten in der Bewegung wieder abbrach.
"Dein Baby wird in guten Händen sein", sagte Tony mit so viel Ernst und so wenig Spott, wie er aufbringen konnte. "Und du hast mir auch gefehlt, Cap."
"Tony." Steve wedelte unbestimmt mit der Hand herum, bevor er sie Tony zur Begrüßung reichte. Einen kurzen Augenblick kam Tony in den Sinn, dass dies ihre allererste richtige Begrüßung war, die nicht in Streitereien endete. Ihr erstes Händeschütteln, das kein Abschied war. Steves Hände waren immer noch riesig und unnatürlich warm, und für einen weiteren Augenblick kamen Tony ganz, ganz andere Dinge in den Sinn. Zum Beispiel, wie und wo sich diese Hände noch gut anfühlen könnten.
Oh. Das war neu. Tony ging noch einmal seine letzten Gedankengänge durch, doch da war es noch immer: Er hatte gerade sexuelle Fantasien von Captain America gehabt. Dem Kerl, der nicht viel von ihm hielt und den Tony eigentlich nicht mögen sollte. Das war ihm seit seiner absolut furchtbaren Fanboy-Phase als Teenager nicht mehr passiert.
Der arrogante Held deiner Kindheit und du willst ihn vögeln. Großartig, Tony.
Er beschloss, das zu tun, was er immer mit komplizierten Dingen tat: Er ignorierte es, setzte ein charmantes Lächeln auf und deutete auf die Sofas hinter sich.
"Setz dich doch! Wie wär's mit einem Drink?"
"Ich trinke nicht, danke."
"Soda? Wasser?"
Steve schüttelte den Kopf, setzte sich aber neugierig umsehend auf die Couch. Tony schenkte sich dennoch einen Scotch ein, weil das prinzipiell nach einer sehr guten Idee klang.
"Wie war die Reise? Was führt dich her? Ich hatte nicht erwartet, dich so bald wieder zu sehen." Genau genommen hatte Tony erwartet, dass Steve der letzte wäre, der sich freiwillig bei ihm meldete. Sie mochten zwar im Guten auseinander gegangen sein, aber das hieß nicht, dass sie bereits beste Freunde waren. Es sei denn … "Es sei denn, Fury hat einen Auftrag. Es ist Fury, hab ich Recht? Die Avengers werden gebraucht?"
"Nein! Wirklich nicht. Nichts dergleichen." Abermals schüttelte Rogers den Kopf und hob beschwichtigend die Hände. "Es ist eher etwas – Privates. Könnte man so sagen. Eine Sache, äh, privat und-"
"Cap", unterbrach er den Supersoldaten mit einem amüsierten Schmunzeln gegen sein Glas. "Wenn du mich um ein Date bitten willst, dann sag es einfach."
"Was?!" Tony kam in den Genuss, Captain Americas Stimme ein, zwei Oktaven höher zu erleben. Mit entsetztem Blick und puterroten Wangen starrte Steve ihn an. "Tony, das-"
"Reg dich ab, Cap. Was ich damit sagen wollte: Du quasselst. Ich dachte, das wäre meine Aufgabe?"
"Oh. Ähm." Steve hielt inne, rieb sich mit einer Hand über den Nacken, schenkte ihm ein verlegenes, entschuldigendes Lächeln und verdammt, das kam unerwartet. Tony versteckte seine entgleisenden Gesichtszüge hinter einem weiteren Schluck Scotch. "Tut mir Leid. Du hast Recht. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, Banner hier anzutreffen."
Oh. Natürlich. Was hätte Captain America auch sonst im Stark Tower zu suchen?
"Sorry, der ist nicht mehr hier", meinte Tony gleichgültig und diesmal musste er sich nicht hinter seinem Scotch verstecken. Seine Arschloch-Fassade schlüpfte wie von alleine über seine Stimme, seine Gesichtszüge, seine Haltung. Jahrelange Übung. "Er ist zurück nach Indien, um die Welt im Kleinen zu retten, oder vielleicht auch nur zu einer Wissenschaftskonferenz nach San Fransisco, um einen Blick auf Betty zu erhaschen. Bin mir nicht mehr sicher."
"Ah. Schade." Steve wirkte enttäuscht, aber auch – beunruhigt? Er knetete einen Moment nervös seine Hände, bevor er aufzustehen begann. "Tut mir Leid, Tony, ich wollte nicht stören oder dir Umstände machen-"
"Hör auf, dich ständig für alles zu entschuldigen", schnappte Tony und überraschte damit sie beide. Ups. Sie blinzelten sich gleichermaßen perplex an, bis Tony sein Glas beiseite stellte und auf Steve zuging. "Cap. Cap. Was ich damit sagen wollte: Es ist doch nicht deine Schuld, dass Bruce nicht mehr hier ist. Meine übrigens auch nicht, auch wenn viele behaupten, er hätte vor dem letzten Experiment die Flucht ergriffen. Alles Lügen, sage ich dir. Ich wollte niemals ein Kilo Antimaterie herstellen. Höchstens Hundert Gramm."
Steve blinzelte ihn weiterhin eulenhaft an und schien überwältigt von der Flut an Wörtern, die Tony ihm entgegenschleuderte. Tony nutzte die Chance, seinen Patzer zu überspielen.
"Ich mach dir einen Vorschlag: Wir schicken Bruce eine Nachricht. Kann sein, dass es eine Weile dauert, bis er sich meldet, aber du kannst solange hier bleiben und warten. - Ich bestehe darauf", schob er hinterher, als Steve schon wieder Anstalten machte zu protestieren. "Sonst verpasst ihr euch doch nur. Und du kannst deine Suite einweihen."
Steve fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. "Meine- Du hast eine Suite für mich gebaut?"
"Eine Suite für jeden von euch." Tony tat, als wäre es eine beiläufige Tatsache, etwas Alltägliches, das schon einmal vorkommen konnte. Und, nun ja, für Tony Stark war es das wirklich. (Abgesehen von der Tatsache, dass Tony Stark kaum Freunde hatte, für die er etwas bauen konnte.)
"Und dort wäre ich für mich allein?"
"Sicher. Wenn du das möchtest." Tony hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet das ein Argument war, das Steve umstimmen würde. Aber hey, was auch immer den Captain glücklich machte. "Ich kann dir natürlich auch ein paar Stripperinnen runterschicken, wenn du das möchtest. Absolute Diskretion."
"Schon gut, schon gut", wehrte Steve ab. Diese herrliche Röte stieg wieder in seine Wangen. "Ich bleibe. Aber keine … Damen. Bitte."
"Okay." Tony grinste, wie er es sonst nur nach der katastrophalen, aber erfolgreichen Fertigstellung einer Erfindung tat: breit, triumphal und nur ein bisschen irre. "Komm, ich zeig dir deine Zimmer. - Sag mal, kennst du schon JARVIS?"
*
Steve kannte JARVIS offensichtlich noch nicht.
Tony verbrachte circa eine Minute damit, sich an dessen Konsterniertheit über den Mann in der Decke zu ergötzen. Dann hatte sich der Supersoldat wieder gefangen und begann eine höfliche Unterhaltung mit der KI, in der sie sich über das Wetter und die neuesten Vorkommnisse in New York austauschten. Tatsächlich schien Steve kein Problem mit der allgegenwärtigen Präsenz der KI zu haben und sich sofort an das Konzept zu gewöhnen, praktisch alles auf ein Wort zur Verfügung zu haben.
Was sich als weniger einfach herausstellte, war Bruce zu erreichen. Sein Telefon war auf Mailbox umgestellt und das Signal, das von seinem Gerät ausging, schien auf eine unbestimmte Weise gestört zu werden. Tony hinterließ ihm eine Nachricht und bat JARVIS, die Stark-Systeme nach ihm Ausschau halten zu lassen.
"Wie dringend brauchst du ihn?", fragte er beiläufig, während er mit der Idee spielte, sich in staatliche Überwachungssysteme einzuhacken. Er bekam eine vage Kopfbewegung als Antwort, die sowohl ein Nicken als auch ein Kopfschütteln hätte sein können. "Darf ich fragen, was so dringend ist? Mit Bruce?"
Steves Blick wurde verschlossen. "Ich will nicht unhöflich sein, aber das ist-"
"Privat. Verstehe schon", beendete Tony seinen Satz und lächelte ihm lakonisch zu. Er war es gewohnt, dass ihm Leute in der Regel kein Vertrauen entgegen brachten.
Nicht, dass Tony irgendwelche Ansprüche auf Steve hatte. Nicht, dass es Tony etwas anging. Trotzdem verabschiedete er sich relativ bald mit der Entschuldigung, dass er noch arbeiten musste, und überließ Steve sich selbst und seinen Räumlichkeiten.
*
//Sir?//
"Hn?" Tony klemmte sich den Schraubenzieher zwischen die Zähne um freie Hand zu haben, den Präsizionslaser neu auszurichten.
//Ich dachte, es würde Sie interessieren, dass Captain Rogers sich im Gang vor der Werkstatt aufhält.//
"Wahnghassihnochhain."
//Sir?//, entgegnete JARVIS pikiert. Rücksichtsvollerweise spuckte Tony den Schraubenzieher auf die Werkbank hinter sich.
"Dann lass ihn doch rein", wiederholte er ohne aufzuschauen. Das, was er gerade tat, war Milimeterarbeit und er hatte weder Lust noch Nerven, mit seiner KI über solche Nebensächlichkeiten zu diskutieren. Immerhin hatte er es Steve freigestellt, sich überall im Tower umzusehen, wenn er wollte.
//Er wirkt nicht so, als hätte er vor einzutreten.//
"Was soll das heißen: 'Er wirkt nicht so'?"
//Um genau zu sein steht er bereits seit 27 Minuten und 44 Sekunden im Flur.//
"Und das sagst du mir erst jetzt?" Er blickte schlussendlich von seinem Projekt auf, rieb sich die Hände an seiner ohnehin schon verschmierten Hose ab und zog sich den Überwachungsfeed von Kamera 43 auf den nächstgelegenen Bildschirm.
//Wie gesagt: Er wirkte nicht so, als wollte er eintreten, Sir. Genau genommen hat er sich die vollen 28 Minuten nicht von der Stelle gerührt.//
Wie JARVIS gesagt hatte, stand Steve auf dem unbeleuchteten Gang, der zur Werkstatt führte. Es war nicht unbedingt dunkel - in einer Stadt wie New York sorgte das Lichtermeer von draußen immer für ein gewisses Maß an schummriger, nächtlicher Beleuchtung -, aber eindeutig zu dunkel um eine halbe Stunde einfach nur herumzustehen. Im fahlen Stadtlicht und lediglich mit einem einfachen, weißen T-Shirt und Boxershorts bekleidet machte er beinahe den Eindruck, als wäre er nicht von dieser Welt. (Tony unterdrückte den Drang näher auf dessen Beine oder ... anderes heranzuzoomen.) Nur die seltsam angespannte, beinahe stramme Haltung wollte nicht ganz dazu passen.
"Was schaut er da an?"
Tony wechselte auf eine gegenüberliegende Kamera, um zu sehen, was die Aufmerksamkeit von Captain America so sehr fesseln konnte. Die Wände um und bis zur Werkstatt waren vor allem mit Dingen von Howard bepflastert: Artikel, Fotos aus Kriegszeiten, Urkunden, revolutionäre Baupläne. Es waren Erinnerungen aus alter Zeit, aus der Zeit vor Tony.
Steve schien sich auf eine alte Titelseite der New York Times konzentriert zu haben. "Captain America noch immer nicht gefunden" verkündete sie, und darunter war ein noch älteres Foto der Howling Commandos zusammen mit Steve und Tonys Vater. Tony kannte den Artikel in und auswendig. Er hatte ihn oft genug bewundernd angestarrt, während er vergeblich darauf gewartet hatte, dass sein Vater aus der Werkstatt kommen würde.
Als er den Winkel der Kamera neu ausrichtete, zeigte Steve zum ersten Mal eine Regung. Sein Kopf zuckte kurz nach oben. Ein paar Sekunden hielt er inne, bevor sich schnell und zielsicher in die Richtung der Kamera umdrehte. Und obwohl er nicht genug sehen konnte, nicht wissen konnte, wer oder was dahinter saß, schien er Tony direkt anzusehen. Tony spürte ein Prickeln im Nacken und blendete den Feed sofort aus.
"Soll er doch da stehen. Er meldet sich schon, wenn er etwas will."
//Wie Sie meinen, Sir.//
Tony griff nach dem Schraubenzieher, bis ihm wieder einfiel, dass er den eigentlich nicht mehr brauchte. Verärgert warf er ihn von sich und beugte sich wieder über sein Projekt. Nur die Vorstellung, dass Steve Rogers noch immer da draußen stand, praktisch in Unterwäsche, half ihm nicht unbedingt dabei sich zu konzentrieren.
Nur noch einmal gucken, sagte er sich. Einmal.
Doch als er den Feed erneut öffnete, war Steve bereits verschwunden.
*
Als Tony endlich seine Arbeit erfolgreich beendet hatte, war bereits der nächste Morgen angebrochen. Gähnend steuerte er die Aufzüge an und freute sich in Gedanken schon auf seine Dusche. Während er die Gästesuite von Steve passierte, kamen ihm die pathetischen Klänge einer Oper und ein ziemlich übermüdet wirkender Captain America entgegen.
"Hey Cap."
Steve blinzelte und wäre beinahe in ihn hineingelaufen, wenn er nicht einen Schritt zurück in seinen Flur gemacht hätte. Er hielt sich am Türgriff fest, als würde er sonst das Gleichgewicht verlieren, aber das konnte kaum sein. Schließlich war er Captain America.
"Oh, hallo Tony. Guten Morgen."
"Und Gute Nacht für mich." Er grinste. Dann stutzte er. "Ist das Wagner?"
Es hatte ein paar Takte gedauert, bis er die Melodie wiedererkannt hatte. Doch er erinnerte sich noch gut daran. Seine Mutter hatte ihn immer wieder auf Galen und Opernabende mitgeschleppt, aufgemotzt in einem kleinen Smoking und schon damals der Liebling der High Society.
Steve wirkte etwas perplex, bis er endlich selbst die Musik zu bemerken schien. "Ja, ich- JARVIS hat es einfach laufen lassen. Ich weiß auch nicht. Warum?"
"Ich hätte dich nicht für einen Opernfan gehalten. Schon gar nicht Wagner", meinte Tony beiläufig, aber er konnte den skeptischen Unterton nicht aus seiner Stimme halten. Um davon abzulenken schob er zwinkernd hinterher: "Andererseits hatte ich dich auch für einen Frühaufsteher gehalten. Zehn Uhr? Das ist ja schon fast Mittag."
"Vielleicht solltest du dann nicht so viele Schlüsse ziehen ohne mich zu kennen", schnappte Steve zurück.
"Oh, das sagt natürlich der Richtige", schnarrte Tony, doch Steve schien seinen Ausbruch bereits wieder zu bereuen. Er war von einem Moment auf den anderen aufgebraust und schien selbst etwas überrascht. Angestrengt fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. Er wirkte … erschöpft.
"Es tut mir Leid. Das war nicht so gemeint."
"Doch, das war es. Aber ist schon okay", wimmelte Tony mit langjährig geübter Gleichgültigkeit ab. Und weil er es sich nicht verkneifen konnte, schob er hinterher: "Lange Nacht gehabt? Vielleicht solltest du nicht die halbe Nacht damit verbringen, alte Artikel anzustarren. Wirklich Steve, frag das nächste Mal einfach. Ich habe ganze Kisten davon und bei Tageslicht liest es sich weitaus besser."
Tony lächelte freudlos bei der Aussicht, alte Erinnerungen an seinen Vater aufleben zu lassen. Aber etwas in ihm, wollte Steve tatsächlich einen Gefallen tun.
"Was hast du gesagt?"
"Ich sagte, ich habe ganze Kisten von dem Zeug-"
"Davor", verlangte Steve und etwas in seiner Stimme ließ Tony stutzen.
"Dass du den Artikel vor meiner Werkstatt angestarrt hast. Warum?"
"Oh." Aus Steves Gesicht war mit einem Mal alle Farbe gewichen. Seine Gesichtszüge wirkten ruhig, aber in seinen Augen lag eine Alarmiertheit, die nicht dazu passen wollte.
"Cap ... Was ist los?"
*
"Halt. Halt. Moment mal." Tony kniff sich in den Nasenrücken. Es war eindeutig zu früh – oder in seinem Fall zu spät – für solche Dinge. Vor allem ohne eine Tasse Kaffee in seiner Hand. "Schlafwandeln? Soll das heißen, du hast die ganze Zeit vor meiner Werkstatt gestanden und eigentlich geschlafen?"
"Daran erinnere ich mich nicht." Steve knetete unbeholfen seine Hände. "Zumindest nehme ich an, dass es Schlafwandeln ist. Ich kenne mich damit nicht aus, deswegen wollte ich Banner sprechen."
"Soll das heißen, letzte Nacht hat dir überhaupt nichts bedeutet?", fragte Tony gespielt schockiert und griff sich theatralisch an die Brust.
"B-bitte?"
"Du weißt schon, der unglaublich heiße, schmutzige, tiefgreifende, weltenerschütternde Se-"
"Tony!", unterbrach ihn Steve und ja. Ja, es war mies von Tony sich über ihn lustig zu machen, doch wenn Steve gleich damit zu ihm gekommen wäre, hätten sie sich das alles sparen können. Außerdem konnte er es nicht oft genug betonen: Steve sah verdammt gut aus, wenn er errötete.
"Schon gut, schon gut." Beschwichtigend hob er die Hände, zwang das süffisante Grinsen nieder, das sich auf seine Lippen gestohlen hatte, und versuchte Ernst auszusehen. "Und seit wann …?"
"Seit ein paar Wochen", meinte Steve, die Augenbraue skeptisch hochgezogen. Er schien wohl weitere blöde Kommentare zu befürchten. Tony presste demonstrativ die Lippen aufeinander. "Es hat kurz nach Beginn meiner Reise angefangen. Zuerst waren es nur kleine Dinge: Ich habe schlechter geschlafen, fühlte mich unausgeruht, obwohl ich teilweise 12 Stunden am Stück geschlafen habe. Dinge waren nicht mehr an ihrem Platz. Das Fenster war offen, obwohl ich es geschlossen hatte. Das Telefon war an, obwohl ich es ausgeschaltet hatte. Natürlich fand ich das merkwürdig, konnte es mir jedoch nicht erklären. Aber irgendwann ..."
Tony lehnte sich unwillkürlich vor. "Irgendwann?"
"Irgendwann fing ich an, an Orten aufzuwachen, an denen ich zuvor nicht eingeschlafen war. Hatte Erinnerungslücken. Manche Leute sahen mich seltsam an, obwohl ich ihnen noch niemals begegnet war."
"Cap. Du bist ein blonder Hüne mit dem Körper eines Unterwäschemodels. Es kommt vor, dass Leute glotzen." Ich gehöre dazu.
"Nicht so", sagte Steve und schüttelte den Kopf. "Nicht so, als hätten sie Angst vor mir."
Tony wollte widersprechen. Er wollte sagen, dass es durchaus Augenblicke geben konnte, in denen Steve einschüchternd wirken konnte (wenn er wütend über einem ragte und zu
"ein paar Runden draußen" aufforderte, zum Beispiel). Doch Tony schien einen neuen, äußerst guten Sinn für Taktgefühl entwickelt zu haben, denn sein Mund wollte nicht gehorchen. Nicht wenn Steve so verdammt müde aussah. Besorgt. Beinahe angsterfüllt. Steve nahm die Sache ernst, also musste Tony sie auch ernst nehmen.
Er klappte den Mund zu, verzog ihn zu einem vage aufmunternden Lächeln, ließ das Lächeln wieder fallen, als es nichts zu bringen schien. Dann fiel ihm etwas ein.
"JARVIS", fragte er in den Raum hinein. "Warum hast du heute Morgen Wagner in Steves Suite laufen lassen?"
//Captain Rogers hat ausdrücklich danach verlangt, Sir.// Zur Bestätigung seiner Worte ertönte ein leises Knacken und JARVIS spielte eine Aufnahme ab, die er offenbar noch vor wenigen Stunden aufgezeichnet hatte.
Kannst du auch Musik abspielen?
//Alles, was Sie wünschen, Captain.//
Wagner?
//Sicherlich.//
Dann vielleicht 'Das Rheingold'?
//Wie Sie wünschen.//
Die ersten Takte des "Rheingolds" liefen an, bevor es wieder knackte und JARVIS verkündete: //Zeitpunkt der Aufnahme: 7:49 Uhr, 22 Sekunden bis 7:50 Uhr, 56 Sekunden.//
Steve krallte die Hände in den Stoff seiner Hose und wurde bleich. Ob vor Ärger oder Schreck ließ sich schwer sagen. "Das kann nicht sein! Zu dem Zeitpunkt habe ich noch geschlafen."
//Alles deutet darauf hin, dass Captain Rogers bei dieser Unterhaltung selbst anwesend war. Tatsächlich hat sich der Captain aber danach noch einmal schlafen gelegt.//
"Hm." Tony verfiel ins Grübeln. Etwas an der Aufnahme hatte seltsam geklungen. Steves Worte waren eigenartig überartikuliert und ein bisschen abgehackt, so als hätte er seine Stimme schon lange nicht mehr eingesetzt. Nicht zu vergessen seine Reaktion in der vorangegangenen Nacht, als er direkt in Tonys Kamera geblickt hatte. Waren Schlafwandler zu solchen Dingen fähig? Oder war das Zufall gewesen?
Halb in Gedanken versunken, murmelte er: "JARVIS, erstelle bitte einen neuen Ordner auf meinem privaten Laufwerk und lege eine Kopie der Aufnahme darin ab. Suche mir außerdem alles zum Thema Somnambulismus heraus, was du finden kannst – Ebooks, Behandlungsmethoden, eigenartige Fälle – und schicke mir das ganze runter in die Werkstatt. Steve, du kommst mit."
"Was hast du vor?", fragte Steve, noch während er aufstand und ihm hinterher lief. Tony sah ihn an und grinste.
"Na, was wohl? Kaffee kochen. Und dann werden wir das Rätsel lösen."
TBC
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Fandom: The Avengers (MCU)
Pairing: Steve Rogers/Tony Stark
Rating: R (NC-17 für das letzte Kapitel)
Language: Deutsch/German
Wortanzahl: 45.242
Einstufungen/Warnungen: Mystery, Drama, Angst, Slash
Beta:
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Disclaimer: Das Avengers-Universum gehört Marvel und jegliches Copyright liegt bei ihnen. Ich habe mir lediglich die Charaktere ausgeliehen, um ein bisschen mit ihnen zu spielen. Ich mache hiermit kein Geld.
Zusammenfassung: Iron Man erschießt Captain America. Das ist nicht der Anfang, es ist nur das Ende. Angefangen hat es viel, viel früher: mit dem Tesserakt, mit nächtlichen Ausflügen, mit schwarzen Augen, mit einer Krankheit und mit einem Rätsel, für das selbst Tony keine Lösung findet. Angefangen hat es mit vielen kleinen Dingen, doch das Ende bleibt gleich: Tony erschießt Steve.
A/N: Mein Beitrag zum
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Dies ist mit weitem, weitem Abstand die längste Fanfic, die ich jemals geschrieben habe. Es war eine knappe Sache mit viel Haareraufen und inzwischen sehe ich nur noch Buchstaben, aber es ist fertig. ^^
Ich kann wahrscheinlich gar nicht wirklich ausdrücken, wie sehr ich manchen Leuten dankbar bin, aber trotzdem:
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AO3- und FF.de-Links
Prolog | Kapitel 1: Wahrscheinlichkeiten | Kapitel 2: Finsternis | Kapitel 3: Schlaflos | Kapitel 4: Vertigo | Kapitel 5: Stille | Kapitel 6: Sturm | Kapitel 7: Narben | Epilog
AO3 | FF.de
Fanart-Masterpost von
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Seht es euch an, das Bild mit dem Feuerwerk ist einfach nur alsdfjaösdfjöaslkdfj. *fiept begeistert*
Die Ballade von Tony und Steve
Doch jeder tötet, was er liebt,
Das hört nur alIzumal!
Der tuts mit einem giftigen Blick,
Und der mit dem Schmeichelwort schmal.
Der Feigling tut es mit dem Kuss,
Der Tapfre mit dem Stahl.
Die einen töten ihr Lieb, wenn sie jung,
Die andern, wenn sie alt;
Der drosselt mit den Händen der Lust,
Mit den Händen von Golde der krallt:
Der Beste braucht ein Messer, denn so
Wird bald der Tote kalt.
Der liebt zu leicht, und der zu lang,
Der kauft, verkaufen tut der.
Der tut die Tat mit Zähre viel,
Der hat keinen Seufzer mehr:
Denn jeder tötet, was er liebt,
Doch nicht jeder stirbt nachher.
- Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading, Oscar Wilde
Prolog
"Wo ist Loki?!", rief Steve durch das Interkom. Die bessere Frage war: Welches war der richtige Loki?
Während Tony die Umgebung sondierte, markierte JARVIS allein sechs verschiedene Ziele auf den Dächern und Trümmern um sie herum. Der Trick wurde leider nicht besser, ließ sich aber weder mit Scannern noch Sensoren umgehen und blieb daher genauso effektiv wie eh und je. Tony liebte Magie. Er liebte sie wie Ärzte, Karies und Aufsichtsratsversammlungen.
Trotz regulierter Temperatur in der Rüstung rann ihm Schweiß die Stirn herunter. Wenn nicht bald etwas passierte, würde Steve Loki tatsächlich finden und das war das letzte, was Tony jetzt gebrauchen konnte. Ihm rannte die Zeit davon. Er musste handeln. Sofort.
"Loki auf 8 Uhr!"
Er deutete wahllos auf eine der Projektionen und weil Steve seinen Anweisungen inzwischen genauso blind folgte wie umgekehrt, drehte dieser sich in die Richtung. Der Schild wurde durch die Luft geschleudert, traf – und flog sauber durch die Gestalt hindurch. Er blieb zwischen Schutt und Trümmern liegen.
"Das war der Falsche!" Die Worte gingen fast im Lärm einer weiteren Explosion unter, doch Tony hörte den Ärger, die Verwunderung über die Fehlinformation heraus.
Steve stand keine zwei Meter von ihm entfernt, vielleicht nicht hilflos, aber ahnungslos und ohne Schild. Angreifbar. Nicht zum ersten Mal war Tony dankbar für die Gesichtsplatte, den Stimmenmodulator, all die Dinge die ihn von der Außenwelt abschirmten und es praktisch unmöglich machten ihn zu lesen.
Ein Versuch. Danach würden sie wissen, was er vorhatte. Er hatte einen Versuch und der musste sitzen. Ein leises Sirren ertönte, als er die Hand mit dem glühenden Repulsor erhob.
"Iron Man?"
Selbst unter der Maske konnte er Steves Verwirrung herauslesen, die langsam dämmernde Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte. Und, oh, es war so einfach. Zu zielen, die Schwachstellen in Steves Rüstung zu lokalisieren, die richtige Menge an Energie zu berechnen, um seine Rüstung zu durchschlagen. Es war so erschreckend einfach, dass Tony sich fragte, warum es noch niemand vor ihm getan hatte. Dann fiel es ihm wieder ein: Den Bösewichten der Welt hatte allen ein entscheidender Vorteil gefehlt.
"... Tony?"
Captain America vertraute Iron Man. Er vertraute Iron Man mit seinem Leben.
"Sorry, Cap."
Iron Man schoss.
Kapitel 1: Wahrscheinlichkeiten
Wenn du an einem anderen Ort aufwachen kannst.
Wenn du zu einer anderen Zeit aufwachen kannst.
Warum kannst du nicht als ein anderer Mensch aufwachen?
- Fight Club, Chuck Palahniuk
4 Monate zuvor
Es hätte nicht so einfach sein sollen. Es hätte nicht so einfach sein sollen, mit einer Atombombe durch ein Dimensionstor in den sicheren Tod zu fliegen und dann wieder aufzuwachen. Tony fühlte sich, als hätte er bei einem Mathetest geschummelt - und bitte, als ob er Schummeln jemals nötig gehabt hatte. Er war ein Genie.
Trotzdem stand er hier, inmitten der Trümmer von Manhattan, und konnte nicht anders, als daran zu denken, wie wenig es für Yinsens Tod gebraucht hatte. Den seiner Eltern. Phil Coulson. All die Opfer, die noch nicht gezählt werden konnten, weil ihre Körper zwischen den Trümmern lagen.
Menschliche Körper waren so fragil. Ein zerdrücktes Autodach, ein Riss im Körpergewebe, eine kleine, metallene Kugel in den Eingeweiden. Im Vergleich dazu eine Liste der Dinge, die Tony überlebt hatte: Schrapnel-Splitter in der Nähe seines Herzens, eine schleichende Palladium-Vergiftung, einen nordischen Alien-Gott und seine Armee, eine Atombombe, Unmengen von Alkohol. Sein Überleben trotzte jeder Wahrscheinlichkeit.
Wahrscheinlichkeiten sind nicht fair.
"Warum so betrübt, Mann aus Metall? Wir haben gewonnen. Das ist ein Anlass zum Feiern!"
Ein lautes Dong ertönte, als Thor ihm mit der Hand auf den Rücken klopfte. Mit der anderen balancierte er einen Stahlträger auf der Schulter, auf seinem Gesicht prangte ein strahlendes Grinsen. Diese Alien-Götter, stets gut gelaunt. Irgendwann einmal musste er eine ausgiebige Bar-Tour mit Thor machen. Irgendwann. Wenn ihm nicht mehr jeder Knochen im Leib weh tat.
"Sicher, Großer", erwiderte Tony mit einem schiefen Grinsen und war dankbar, dass sich plötzlich JARVIS über den Lautsprecher in seinem Ohr meldete.
//Sir, auf dem Dach des Stark Towers scheint es Komplikationen mit dem Tesserakt zu geben.//
Oder vielleicht auch nicht.
"Sag ihnen, sie sollen mit dem In-die-Luft-fliegen warten, bis ich da bin."
Seufzend ließ er die Gesichtsplatte herunterklappen. Nach einem kurzen Moment der Neuorientierung - richtig, ein älteres Rüstungsmodell, Mark VII war seit dem Absturz unbrauchbar - erwachten die Repulsor-Antriebe spuckend zum Leben und er hob ab.
Verglichen mit dem Rest von Manhattan war der Stark Tower noch verhältnismäßig gut davon gekommen. Trotzdem verzog Tony unglücklich das Gesicht, als er beim Aufstieg zum ersten Mal einen richtigen Überblick über die Schäden bekam: zersplitterte Fenster, Löcher in der Fassade, verbogene Stahlträger und von seinem Logo mochte er gar nicht erst reden.
Oben auf dem Dach war ein Helikopter geparkt, während mehrere SHIELD-Agenten aufgeregt durcheinander wuselten und generell eine Aura von Wichtigkeit verbreiteten - oder es zumindest versuchten. Von Tonys Standpunkt aus wirkten sie eher wie ein Haufen Ameisen, die einen weggeworfenen Haufen Zuckerwatte entdeckt hatten.
"Was ist los?"
Cap- Steve stand inmitten der aufgeregten Agenten und sah etwas orientierungslos aus, als Tony neben ihm landete. Eine der Agenten inspizierte seine bloßen Hände, bevor er sie bestimmt ihrem Griff entzog.
"Der Tesserakt …"
"Er hat pulsiert." Die junge Frau, die eben noch Steve untersucht hatte, dreht sich um. "Wir vermuten, dass es sich um eine Art Nachwehe gehandelt hat, nachdem das Objekt kürzlich so viel Energie abgegeben hat. Leider fand die Reaktion statt, als einer der Agenten den Tesserakt gerade aus der Vorrichtung entfernen wollte und ist dabei von den Füßen gerissen worden. Der Captain war so geistesgegenwärtig und hat das Objekt gefangen."
"Sie wollen nicht herausfinden, was passiert, wenn er es nicht getan hätte." Tony ließ die Gesichtsplatte hochklappen und sah Steve mit hochgezogener Augenbraue an. "Du hast ihn berührt?"
"Ja." Steves Tonfall wirkte entgeistert, beinahe abwesend, so als hätte er die Situation noch nicht wirklich begriffen. Für einen minimalen Augenblick wurden seine Augen dunkel, die Pupillen unnatürlich geweitet, und Tony bekam allmählich den Verdacht, dass er unter Schock stand. Doch der Moment war so schnell vorüber, wie er gekommen war, und Steve schaute kopfschüttelnd in die Richtung, in der der Tesserakt abtransportiert wurde. "Wo wird er hingebracht ...?"
Unvermittelt griff Tony nach Steves Händen und im Gegensatz zu eben wehrte dieser sich nicht gegen die Berührung. Es waren riesige Pranken, die trotzdem auf seltsame Weise elegant wirkten. Ganz im Gegensatz zu Tonys eigenen Händen, die unzählige Schnitte, Schwielen und Narben von Jahren in der Werkstatt davon getragen hatten. Caps dagegen waren makellos.
"Keine Verbrennungen. Nicht ein Kratzer. Muss wohl am Superserum liegen." Tony musste sich das Aufatmen verkneifen. Immerhin einer, der nicht so zerbrechlich war, wie der Rest. Jemand, der nicht so einfach sterben konnte. Wie auf Kommando ließ er Steves Hände aus seinem Griff fallen, ballte die behandschuhten Finger einmal kurz zusammen und klopfte ihm genauso auf den Rücken, wie es Thor bei ihm eben getan hatte.
"Mach dir nichts daraus", sagte er heiter. "Deine Hände sind in Ordnung. Das heißt, du kannst problemlos all die glorreichen Dinge tun, die man mit Händen so tut. Shawarma essen eingeschlossen."
Steve blinzelte ihn eulenhaft an, verwirrt, so als wäre er noch immer nicht ganz da. Oder als hätte er einen besseren Kommentar erwartet. Doch alle Sprüche, die Tony auf der Zunge lagen, schmeckten fad und geistlos. (Er war fast gestorben und hatte Manhattan gerettet, okay? Sogar Tony Stark durfte einen schlechten Tag haben.)
"Sicher, Tony."
"Man sieht sich unten, Cap." Tony nickte, klappte die Gesichtsplatte herunter und flog davon, bevor das ganze noch peinlicher werden konnte.
*
Der Tesserakt war sicher in der Vorrichtung verstaut, die Tony, Bruce und Selvig in Zusammenarbeit mit Jane Foster entworfen hatten. Keine Erschütterung, nicht einmal eine Explosion, konnte ihn jetzt noch gefährlich machen. Außerdem hatte er jetzt den unschlagbaren Bonus, dass man damit durch Dimensionen reisen konnte.
Thor und Loki standen sich gegenüber und - okay. Ja. Tony musste sich fast die Finger abbeißen, um die Bondage-Witze im Zaum zu halten. Selbst dann entwischten ihm ein paar eindeutig zweideutige Kommentare dazu. Glücklicherweise gingen sie an den beiden Herren aus dem All und dem jungfräulichen Supersoldaten unbemerkt vorüber. Natasha sah ihn zwar vernichtend an, doch Bruce polierte unerschüttert seine Brille und Clint - Clint grinste. Tony beschloss, dass er Clint mochte. Wenige Leute hatten heutzutage noch genug Wertschätzung für anständigen Sarkasmus.
Niemand trauerte darum, dass der Tesserakt aus dieser Welt verschwinden musste. Nicht einmal Selvig, der wahrscheinlich für den Rest seines Lebens genug von dem Würfel hatte. Nicht einmal Tony, der die Notizen seines Vaters kannte und wusste, was für einen Schub seine Forschungen zur sauberen Energie erhalten könnten. Schon gar nicht Steve, der den blauen Würfel nicht eine Sekunde aus den Augen ließ und ihn wie hypnotisiert anstarrte. Von ihnen allen war er derjenige, der schon einmal erlebt hatte, was passierte, wenn außerirdische Macht missbraucht wurde.
Wirklich. Tony konnte zufrieden sterben, wenn er wusste, dass das Ding nie wieder auf der Erde landen würde.
*
Für eine Weile ging der Rest der Avengers getrennte Wege.
Clint und Natasha verschwanden, um geheimen, nicht näher definierten Kram für SHIELD zu erledigen. Aufklärungsmissionen, Informationsbeschaffung, neue Agenten anheuern – es war nicht weiter wichtig für Tony. Selbst wenn er es wissen wollte, hätte er SHIELDs Server innerhalb weniger Minuten knacken und sich die Information selbst ziehen können. (Man ließ Tony Stark nicht in seine Systeme herein, ohne dass er sich nicht eine Hintertür offen ließ. Oder mehrere.) Was zählte war, dass sie ihm eine Nummer gaben, unter der er einen von ihnen immer erreichen konnte.
"Falls dich wieder irgendwelche Götter aus dem Fenster werfen, Stark", meinte Clint gelangweilt, doch in seinen Augen funkelte gut gemeinter Spott.
"Lass dich nicht von Zwergen entführen, Legolas." Tony grinste und ja, er mochte Clint.
Steve hatte vor, mit seiner Maschine einen Trip quer durch die Staaten zu machen. Wenn es jemand anderes gewesen wäre, irgendjemand anderes, hätte Tony gelacht. Denn mal ernsthaft? Captain America. Auf einem Roadtrip. Mit seinem Motorrad. Das stank nach alten Classic Rock-Liedern. Allerdings handelte es sich um Steve und, Himmel nochmal, der Mann war 70 Jahre eingefroren gewesen. Er hatte sich den abgedroschensten Roadtrip der Welt verdient, wenn es ihn nur glücklich machte. Außerdem war es bei so viel Vorfreude schwer, sich über ihn lustig zu machen.
"Erst der Krieg, dann die Zeit im Eis … es gab nie viele Gelegenheiten, darüber nachzudenken, was ich will. Aber jetzt habe ich sie. Ich möchte durch das Land reisen. Einfach nur etwas für mich selbst tun. Verstehst du, was ich meine?"
Steve sah so verlegen aus. Als ob er sich tatsächlich dafür rechtfertigen müsste, dass er etwas Eigennütziges tun wollte, nachdem er sich jahrelang für sein Land aufgeopfert hatte.
"Ja, ich denke schon", log Tony. Sein Leben mochte nicht immer frei gewesen sein, nicht unter seinem Vater, nicht unter Obie, doch er hatte er mehr Impulsen nachgegeben als gut für ihn war. Verdammt, sein ganzes Leben bestand nur aus Impulsen und schlechten Entscheidungen.
Steve lächelte dankbar und Tony kam sich wie der größte Versager der Welt vor. Er hasste Steve dafür, dass er so gutherzig und perfekt war und dabei noch so verteufelt gut aussah. Er hasste Steve dafür, dass er in Tony immer nur den Egoisten gesehen hatte. Denn wenn Captain America so etwas über einen dachte, dann musste es ja stimmen, richtig? Tony hasste ihn und doch … und doch war da ein Kribbeln in seinen Fingerspitzen und eine Wärme in seinem Bauch, die ihn verunsicherte.
"Na dann", sagte er unbeholfen und klopfte wieder einmal auf Captain Americas muskelbepackten Oberarm. "Viel Spaß bei deinem Selbstfindungstrip, Cap. Besuch das größte Garnknäuel der Welt für mich ja? - Oh, guck nicht so. Du wirst es lieben, glaub mir."
*
Tony gab keinem von ihnen seine Nummer, aber das war okay. Sie wussten alle, wo er zu finden war.
*
Zum ersten Mal in seinem Leben machte Tony die Erfahrung, immer jemanden in Reichweite zu haben, der seine Hirngespinste tatsächlich verstand. Sein Vater hatte nie die Zeit oder Geduld gehabt, um mit ihm über Wissenschaft zu reden, Obie – nun ja – und die wenigen Freunde, die er hatte, schenkten ihm bestenfalls ein müdes Lächeln, wenn er von Teilchenbeschleunigern und Neutrinos anfing.
Mit Bruce im Tower konnte er jedoch einfach in den Aufzug steigen, drei Stockwerke nach unten fahren und sagen: "Hey Bruce, ich habe da eine Idee ..." Und weil Bruce ihn nicht nur verstand, sondern auch höflich war, sagte er Tony nicht sofort, dass er vollkommen übergeschnappt war. Meistens zumindest.
Nach einer Woche und drei Tagen diskutierten sie die Möglichkeiten, die Nanotechnologie bieten konnte, um Bruces Zustand zu verändern, womöglich sogar zu kontrollieren. Vier Tage später verwarfen sie die Idee, da Bruces Zellmaterial in einem Testlauf beängstigende Reaktionen zeigte. (Ein Hulk mit der Fähigkeit zu übernatürlich schneller Zellreproduktion und der sich eventuell vier neue Arme wachsen lassen konnte? Nein, danke.)
Nach einem Monat und sieben Tagen machte Tony den Vorschlag, dass sie Teleportation und Zeitreisen erforschen sollten. Bruce sah ihn einfach nur an. "Was? Es wäre praktisch!", meinte er mit Unschuldsmiene, und wenn er dabei an seinen eigenen Vater dachte, oder daran, wie sehr er damit Cap beeindrucken könnte, so war das absoluter Zufall.
(Bruce war bereits eineinhalb Monate da, als Tony und Pepper Schluss machten. Es war eine Trennung in beidseitigem Einverständnis, weil Pepper schon immer die Vernünftige von ihnen war und selbst Tony sich nicht länger etwas vormachen konnte. Es hätte auf Dauer einfach nicht funktioniert und Tony hatte zu wenig Freundschaften, als dass er diese riskieren wollte.
Eine weitere gescheiterte Beziehung. Ein weiterer Strich in der Liste. Nichts Neues im Hause Stark.
Obwohl er die Trennung nicht explizit ansprach, zeigte Bruce bemerkenswert viel Einfühlungsvermögen. Vielleicht, weil er immer noch regelmäßig mit Betty telefonierte und seine Gefühle für sie so offensichtlich waren, dass selbst Tony sie auf zehn Meilen gegen den Wind riechen konnte. Bruce wusste aus erster Hand, wie es war, jemanden gehen zu lassen, weil es einfach besser war. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Bruce Bruce war und mehr Dinge durchschaute, als die meisten Leute ihm zutrauten.
Er stellte keine nervigen Fragen, sagte nicht, wie Leid es ihm tat. Doch er brachte dem verkaterten Tony morgens ein Glas Wasser und Kopfschmerztabletten mit ins Labor, warf eine neue Theorie in den Raum, wenn Tony zu lange schweigend vor sich hinbrütete und ließ ihn in Ruhe, wenn er sich für Tage am Stück in die Werkstatt zurückzog. Außerdem fand Tony heraus, dass Bruce ein mörderisches Curry kochen konnte.
Alles in allem war es eine der besseren Trennungen, die Tony in seinem Leben durchmachen musste. Pepper war wundervoll, Pepper war perfekt, und wenn er ehrlich sein sollte, wusste er schon immer, dass sie zu gut für ihn war. Trotzdem brauchte er eine ganze Weile, um sich wieder an die Leere auf der linken Betthälfte zu gewöhnen.)
Bruce war zwei Monate und sieben Tage Gast des Stark Towers und Tony drauf und dran seine Anwesenheit für gegeben zu nehmen.
"Bitte?", meinte er deshalb, als hätte er eben nicht jedes Wort genau verstanden.
"Ich sagte, es wird langsam Zeit für mich weiter zu ziehen. Es war eine tolle Erfahrung, Tony. Aber ich kann deinen Gastfreundschaft nicht noch länger beanspruchen." Bruce lächelte dieses furchtbar sympathische Lächeln, das kleine scheue, bei dem man ihm nichts übel nehmen konnte. Allein dafür wollte Tony ihn hassen.
"Natürlich", sagte er nur und grinste trocken zurück. Natürlich wollte Bruce gehen. Natürlich konnte nicht zumindest einmal alles so bleiben, wie es war. Natürlich war Tony am Anfang der nächsten Woche wieder allein im Tower.
Alles wie immer. Nichts Neues im Hause Stark.
*
Bruce war keine fünf Tage fort, als Captain America vor Tonys Tür stand.
Was sagte man dazu.
*
"Ähm. Hi." Steve sah aus wie die Fleisch gewordene Unbeholfenheit, als die Fahrstuhltür zu Tonys Penthaus mit einem stilvollen Ding aufglitt und er zögernd eintrat. "Ich wusste nicht, wo ich meine Maschine abstellen sollte, aber die Dame am Empfang meinte, sie kann sich darum kümmern … Ich hoffe, das geht in Ordnung?"
Er machte ein paar Schritte in den Salon hinein, bevor er stehen blieb und hinter sich deutete, die Geste aber mitten in der Bewegung wieder abbrach.
"Dein Baby wird in guten Händen sein", sagte Tony mit so viel Ernst und so wenig Spott, wie er aufbringen konnte. "Und du hast mir auch gefehlt, Cap."
"Tony." Steve wedelte unbestimmt mit der Hand herum, bevor er sie Tony zur Begrüßung reichte. Einen kurzen Augenblick kam Tony in den Sinn, dass dies ihre allererste richtige Begrüßung war, die nicht in Streitereien endete. Ihr erstes Händeschütteln, das kein Abschied war. Steves Hände waren immer noch riesig und unnatürlich warm, und für einen weiteren Augenblick kamen Tony ganz, ganz andere Dinge in den Sinn. Zum Beispiel, wie und wo sich diese Hände noch gut anfühlen könnten.
Oh. Das war neu. Tony ging noch einmal seine letzten Gedankengänge durch, doch da war es noch immer: Er hatte gerade sexuelle Fantasien von Captain America gehabt. Dem Kerl, der nicht viel von ihm hielt und den Tony eigentlich nicht mögen sollte. Das war ihm seit seiner absolut furchtbaren Fanboy-Phase als Teenager nicht mehr passiert.
Der arrogante Held deiner Kindheit und du willst ihn vögeln. Großartig, Tony.
Er beschloss, das zu tun, was er immer mit komplizierten Dingen tat: Er ignorierte es, setzte ein charmantes Lächeln auf und deutete auf die Sofas hinter sich.
"Setz dich doch! Wie wär's mit einem Drink?"
"Ich trinke nicht, danke."
"Soda? Wasser?"
Steve schüttelte den Kopf, setzte sich aber neugierig umsehend auf die Couch. Tony schenkte sich dennoch einen Scotch ein, weil das prinzipiell nach einer sehr guten Idee klang.
"Wie war die Reise? Was führt dich her? Ich hatte nicht erwartet, dich so bald wieder zu sehen." Genau genommen hatte Tony erwartet, dass Steve der letzte wäre, der sich freiwillig bei ihm meldete. Sie mochten zwar im Guten auseinander gegangen sein, aber das hieß nicht, dass sie bereits beste Freunde waren. Es sei denn … "Es sei denn, Fury hat einen Auftrag. Es ist Fury, hab ich Recht? Die Avengers werden gebraucht?"
"Nein! Wirklich nicht. Nichts dergleichen." Abermals schüttelte Rogers den Kopf und hob beschwichtigend die Hände. "Es ist eher etwas – Privates. Könnte man so sagen. Eine Sache, äh, privat und-"
"Cap", unterbrach er den Supersoldaten mit einem amüsierten Schmunzeln gegen sein Glas. "Wenn du mich um ein Date bitten willst, dann sag es einfach."
"Was?!" Tony kam in den Genuss, Captain Americas Stimme ein, zwei Oktaven höher zu erleben. Mit entsetztem Blick und puterroten Wangen starrte Steve ihn an. "Tony, das-"
"Reg dich ab, Cap. Was ich damit sagen wollte: Du quasselst. Ich dachte, das wäre meine Aufgabe?"
"Oh. Ähm." Steve hielt inne, rieb sich mit einer Hand über den Nacken, schenkte ihm ein verlegenes, entschuldigendes Lächeln und verdammt, das kam unerwartet. Tony versteckte seine entgleisenden Gesichtszüge hinter einem weiteren Schluck Scotch. "Tut mir Leid. Du hast Recht. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, Banner hier anzutreffen."
Oh. Natürlich. Was hätte Captain America auch sonst im Stark Tower zu suchen?
"Sorry, der ist nicht mehr hier", meinte Tony gleichgültig und diesmal musste er sich nicht hinter seinem Scotch verstecken. Seine Arschloch-Fassade schlüpfte wie von alleine über seine Stimme, seine Gesichtszüge, seine Haltung. Jahrelange Übung. "Er ist zurück nach Indien, um die Welt im Kleinen zu retten, oder vielleicht auch nur zu einer Wissenschaftskonferenz nach San Fransisco, um einen Blick auf Betty zu erhaschen. Bin mir nicht mehr sicher."
"Ah. Schade." Steve wirkte enttäuscht, aber auch – beunruhigt? Er knetete einen Moment nervös seine Hände, bevor er aufzustehen begann. "Tut mir Leid, Tony, ich wollte nicht stören oder dir Umstände machen-"
"Hör auf, dich ständig für alles zu entschuldigen", schnappte Tony und überraschte damit sie beide. Ups. Sie blinzelten sich gleichermaßen perplex an, bis Tony sein Glas beiseite stellte und auf Steve zuging. "Cap. Cap. Was ich damit sagen wollte: Es ist doch nicht deine Schuld, dass Bruce nicht mehr hier ist. Meine übrigens auch nicht, auch wenn viele behaupten, er hätte vor dem letzten Experiment die Flucht ergriffen. Alles Lügen, sage ich dir. Ich wollte niemals ein Kilo Antimaterie herstellen. Höchstens Hundert Gramm."
Steve blinzelte ihn weiterhin eulenhaft an und schien überwältigt von der Flut an Wörtern, die Tony ihm entgegenschleuderte. Tony nutzte die Chance, seinen Patzer zu überspielen.
"Ich mach dir einen Vorschlag: Wir schicken Bruce eine Nachricht. Kann sein, dass es eine Weile dauert, bis er sich meldet, aber du kannst solange hier bleiben und warten. - Ich bestehe darauf", schob er hinterher, als Steve schon wieder Anstalten machte zu protestieren. "Sonst verpasst ihr euch doch nur. Und du kannst deine Suite einweihen."
Steve fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. "Meine- Du hast eine Suite für mich gebaut?"
"Eine Suite für jeden von euch." Tony tat, als wäre es eine beiläufige Tatsache, etwas Alltägliches, das schon einmal vorkommen konnte. Und, nun ja, für Tony Stark war es das wirklich. (Abgesehen von der Tatsache, dass Tony Stark kaum Freunde hatte, für die er etwas bauen konnte.)
"Und dort wäre ich für mich allein?"
"Sicher. Wenn du das möchtest." Tony hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet das ein Argument war, das Steve umstimmen würde. Aber hey, was auch immer den Captain glücklich machte. "Ich kann dir natürlich auch ein paar Stripperinnen runterschicken, wenn du das möchtest. Absolute Diskretion."
"Schon gut, schon gut", wehrte Steve ab. Diese herrliche Röte stieg wieder in seine Wangen. "Ich bleibe. Aber keine … Damen. Bitte."
"Okay." Tony grinste, wie er es sonst nur nach der katastrophalen, aber erfolgreichen Fertigstellung einer Erfindung tat: breit, triumphal und nur ein bisschen irre. "Komm, ich zeig dir deine Zimmer. - Sag mal, kennst du schon JARVIS?"
*
Steve kannte JARVIS offensichtlich noch nicht.
Tony verbrachte circa eine Minute damit, sich an dessen Konsterniertheit über den Mann in der Decke zu ergötzen. Dann hatte sich der Supersoldat wieder gefangen und begann eine höfliche Unterhaltung mit der KI, in der sie sich über das Wetter und die neuesten Vorkommnisse in New York austauschten. Tatsächlich schien Steve kein Problem mit der allgegenwärtigen Präsenz der KI zu haben und sich sofort an das Konzept zu gewöhnen, praktisch alles auf ein Wort zur Verfügung zu haben.
Was sich als weniger einfach herausstellte, war Bruce zu erreichen. Sein Telefon war auf Mailbox umgestellt und das Signal, das von seinem Gerät ausging, schien auf eine unbestimmte Weise gestört zu werden. Tony hinterließ ihm eine Nachricht und bat JARVIS, die Stark-Systeme nach ihm Ausschau halten zu lassen.
"Wie dringend brauchst du ihn?", fragte er beiläufig, während er mit der Idee spielte, sich in staatliche Überwachungssysteme einzuhacken. Er bekam eine vage Kopfbewegung als Antwort, die sowohl ein Nicken als auch ein Kopfschütteln hätte sein können. "Darf ich fragen, was so dringend ist? Mit Bruce?"
Steves Blick wurde verschlossen. "Ich will nicht unhöflich sein, aber das ist-"
"Privat. Verstehe schon", beendete Tony seinen Satz und lächelte ihm lakonisch zu. Er war es gewohnt, dass ihm Leute in der Regel kein Vertrauen entgegen brachten.
Nicht, dass Tony irgendwelche Ansprüche auf Steve hatte. Nicht, dass es Tony etwas anging. Trotzdem verabschiedete er sich relativ bald mit der Entschuldigung, dass er noch arbeiten musste, und überließ Steve sich selbst und seinen Räumlichkeiten.
*
//Sir?//
"Hn?" Tony klemmte sich den Schraubenzieher zwischen die Zähne um freie Hand zu haben, den Präsizionslaser neu auszurichten.
//Ich dachte, es würde Sie interessieren, dass Captain Rogers sich im Gang vor der Werkstatt aufhält.//
"Wahnghassihnochhain."
//Sir?//, entgegnete JARVIS pikiert. Rücksichtsvollerweise spuckte Tony den Schraubenzieher auf die Werkbank hinter sich.
"Dann lass ihn doch rein", wiederholte er ohne aufzuschauen. Das, was er gerade tat, war Milimeterarbeit und er hatte weder Lust noch Nerven, mit seiner KI über solche Nebensächlichkeiten zu diskutieren. Immerhin hatte er es Steve freigestellt, sich überall im Tower umzusehen, wenn er wollte.
//Er wirkt nicht so, als hätte er vor einzutreten.//
"Was soll das heißen: 'Er wirkt nicht so'?"
//Um genau zu sein steht er bereits seit 27 Minuten und 44 Sekunden im Flur.//
"Und das sagst du mir erst jetzt?" Er blickte schlussendlich von seinem Projekt auf, rieb sich die Hände an seiner ohnehin schon verschmierten Hose ab und zog sich den Überwachungsfeed von Kamera 43 auf den nächstgelegenen Bildschirm.
//Wie gesagt: Er wirkte nicht so, als wollte er eintreten, Sir. Genau genommen hat er sich die vollen 28 Minuten nicht von der Stelle gerührt.//
Wie JARVIS gesagt hatte, stand Steve auf dem unbeleuchteten Gang, der zur Werkstatt führte. Es war nicht unbedingt dunkel - in einer Stadt wie New York sorgte das Lichtermeer von draußen immer für ein gewisses Maß an schummriger, nächtlicher Beleuchtung -, aber eindeutig zu dunkel um eine halbe Stunde einfach nur herumzustehen. Im fahlen Stadtlicht und lediglich mit einem einfachen, weißen T-Shirt und Boxershorts bekleidet machte er beinahe den Eindruck, als wäre er nicht von dieser Welt. (Tony unterdrückte den Drang näher auf dessen Beine oder ... anderes heranzuzoomen.) Nur die seltsam angespannte, beinahe stramme Haltung wollte nicht ganz dazu passen.
"Was schaut er da an?"
Tony wechselte auf eine gegenüberliegende Kamera, um zu sehen, was die Aufmerksamkeit von Captain America so sehr fesseln konnte. Die Wände um und bis zur Werkstatt waren vor allem mit Dingen von Howard bepflastert: Artikel, Fotos aus Kriegszeiten, Urkunden, revolutionäre Baupläne. Es waren Erinnerungen aus alter Zeit, aus der Zeit vor Tony.
Steve schien sich auf eine alte Titelseite der New York Times konzentriert zu haben. "Captain America noch immer nicht gefunden" verkündete sie, und darunter war ein noch älteres Foto der Howling Commandos zusammen mit Steve und Tonys Vater. Tony kannte den Artikel in und auswendig. Er hatte ihn oft genug bewundernd angestarrt, während er vergeblich darauf gewartet hatte, dass sein Vater aus der Werkstatt kommen würde.
Als er den Winkel der Kamera neu ausrichtete, zeigte Steve zum ersten Mal eine Regung. Sein Kopf zuckte kurz nach oben. Ein paar Sekunden hielt er inne, bevor sich schnell und zielsicher in die Richtung der Kamera umdrehte. Und obwohl er nicht genug sehen konnte, nicht wissen konnte, wer oder was dahinter saß, schien er Tony direkt anzusehen. Tony spürte ein Prickeln im Nacken und blendete den Feed sofort aus.
"Soll er doch da stehen. Er meldet sich schon, wenn er etwas will."
//Wie Sie meinen, Sir.//
Tony griff nach dem Schraubenzieher, bis ihm wieder einfiel, dass er den eigentlich nicht mehr brauchte. Verärgert warf er ihn von sich und beugte sich wieder über sein Projekt. Nur die Vorstellung, dass Steve Rogers noch immer da draußen stand, praktisch in Unterwäsche, half ihm nicht unbedingt dabei sich zu konzentrieren.
Nur noch einmal gucken, sagte er sich. Einmal.
Doch als er den Feed erneut öffnete, war Steve bereits verschwunden.
*
Als Tony endlich seine Arbeit erfolgreich beendet hatte, war bereits der nächste Morgen angebrochen. Gähnend steuerte er die Aufzüge an und freute sich in Gedanken schon auf seine Dusche. Während er die Gästesuite von Steve passierte, kamen ihm die pathetischen Klänge einer Oper und ein ziemlich übermüdet wirkender Captain America entgegen.
"Hey Cap."
Steve blinzelte und wäre beinahe in ihn hineingelaufen, wenn er nicht einen Schritt zurück in seinen Flur gemacht hätte. Er hielt sich am Türgriff fest, als würde er sonst das Gleichgewicht verlieren, aber das konnte kaum sein. Schließlich war er Captain America.
"Oh, hallo Tony. Guten Morgen."
"Und Gute Nacht für mich." Er grinste. Dann stutzte er. "Ist das Wagner?"
Es hatte ein paar Takte gedauert, bis er die Melodie wiedererkannt hatte. Doch er erinnerte sich noch gut daran. Seine Mutter hatte ihn immer wieder auf Galen und Opernabende mitgeschleppt, aufgemotzt in einem kleinen Smoking und schon damals der Liebling der High Society.
Steve wirkte etwas perplex, bis er endlich selbst die Musik zu bemerken schien. "Ja, ich- JARVIS hat es einfach laufen lassen. Ich weiß auch nicht. Warum?"
"Ich hätte dich nicht für einen Opernfan gehalten. Schon gar nicht Wagner", meinte Tony beiläufig, aber er konnte den skeptischen Unterton nicht aus seiner Stimme halten. Um davon abzulenken schob er zwinkernd hinterher: "Andererseits hatte ich dich auch für einen Frühaufsteher gehalten. Zehn Uhr? Das ist ja schon fast Mittag."
"Vielleicht solltest du dann nicht so viele Schlüsse ziehen ohne mich zu kennen", schnappte Steve zurück.
"Oh, das sagt natürlich der Richtige", schnarrte Tony, doch Steve schien seinen Ausbruch bereits wieder zu bereuen. Er war von einem Moment auf den anderen aufgebraust und schien selbst etwas überrascht. Angestrengt fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. Er wirkte … erschöpft.
"Es tut mir Leid. Das war nicht so gemeint."
"Doch, das war es. Aber ist schon okay", wimmelte Tony mit langjährig geübter Gleichgültigkeit ab. Und weil er es sich nicht verkneifen konnte, schob er hinterher: "Lange Nacht gehabt? Vielleicht solltest du nicht die halbe Nacht damit verbringen, alte Artikel anzustarren. Wirklich Steve, frag das nächste Mal einfach. Ich habe ganze Kisten davon und bei Tageslicht liest es sich weitaus besser."
Tony lächelte freudlos bei der Aussicht, alte Erinnerungen an seinen Vater aufleben zu lassen. Aber etwas in ihm, wollte Steve tatsächlich einen Gefallen tun.
"Was hast du gesagt?"
"Ich sagte, ich habe ganze Kisten von dem Zeug-"
"Davor", verlangte Steve und etwas in seiner Stimme ließ Tony stutzen.
"Dass du den Artikel vor meiner Werkstatt angestarrt hast. Warum?"
"Oh." Aus Steves Gesicht war mit einem Mal alle Farbe gewichen. Seine Gesichtszüge wirkten ruhig, aber in seinen Augen lag eine Alarmiertheit, die nicht dazu passen wollte.
"Cap ... Was ist los?"
*
"Halt. Halt. Moment mal." Tony kniff sich in den Nasenrücken. Es war eindeutig zu früh – oder in seinem Fall zu spät – für solche Dinge. Vor allem ohne eine Tasse Kaffee in seiner Hand. "Schlafwandeln? Soll das heißen, du hast die ganze Zeit vor meiner Werkstatt gestanden und eigentlich geschlafen?"
"Daran erinnere ich mich nicht." Steve knetete unbeholfen seine Hände. "Zumindest nehme ich an, dass es Schlafwandeln ist. Ich kenne mich damit nicht aus, deswegen wollte ich Banner sprechen."
"Soll das heißen, letzte Nacht hat dir überhaupt nichts bedeutet?", fragte Tony gespielt schockiert und griff sich theatralisch an die Brust.
"B-bitte?"
"Du weißt schon, der unglaublich heiße, schmutzige, tiefgreifende, weltenerschütternde Se-"
"Tony!", unterbrach ihn Steve und ja. Ja, es war mies von Tony sich über ihn lustig zu machen, doch wenn Steve gleich damit zu ihm gekommen wäre, hätten sie sich das alles sparen können. Außerdem konnte er es nicht oft genug betonen: Steve sah verdammt gut aus, wenn er errötete.
"Schon gut, schon gut." Beschwichtigend hob er die Hände, zwang das süffisante Grinsen nieder, das sich auf seine Lippen gestohlen hatte, und versuchte Ernst auszusehen. "Und seit wann …?"
"Seit ein paar Wochen", meinte Steve, die Augenbraue skeptisch hochgezogen. Er schien wohl weitere blöde Kommentare zu befürchten. Tony presste demonstrativ die Lippen aufeinander. "Es hat kurz nach Beginn meiner Reise angefangen. Zuerst waren es nur kleine Dinge: Ich habe schlechter geschlafen, fühlte mich unausgeruht, obwohl ich teilweise 12 Stunden am Stück geschlafen habe. Dinge waren nicht mehr an ihrem Platz. Das Fenster war offen, obwohl ich es geschlossen hatte. Das Telefon war an, obwohl ich es ausgeschaltet hatte. Natürlich fand ich das merkwürdig, konnte es mir jedoch nicht erklären. Aber irgendwann ..."
Tony lehnte sich unwillkürlich vor. "Irgendwann?"
"Irgendwann fing ich an, an Orten aufzuwachen, an denen ich zuvor nicht eingeschlafen war. Hatte Erinnerungslücken. Manche Leute sahen mich seltsam an, obwohl ich ihnen noch niemals begegnet war."
"Cap. Du bist ein blonder Hüne mit dem Körper eines Unterwäschemodels. Es kommt vor, dass Leute glotzen." Ich gehöre dazu.
"Nicht so", sagte Steve und schüttelte den Kopf. "Nicht so, als hätten sie Angst vor mir."
Tony wollte widersprechen. Er wollte sagen, dass es durchaus Augenblicke geben konnte, in denen Steve einschüchternd wirken konnte (wenn er wütend über einem ragte und zu
"ein paar Runden draußen" aufforderte, zum Beispiel). Doch Tony schien einen neuen, äußerst guten Sinn für Taktgefühl entwickelt zu haben, denn sein Mund wollte nicht gehorchen. Nicht wenn Steve so verdammt müde aussah. Besorgt. Beinahe angsterfüllt. Steve nahm die Sache ernst, also musste Tony sie auch ernst nehmen.
Er klappte den Mund zu, verzog ihn zu einem vage aufmunternden Lächeln, ließ das Lächeln wieder fallen, als es nichts zu bringen schien. Dann fiel ihm etwas ein.
"JARVIS", fragte er in den Raum hinein. "Warum hast du heute Morgen Wagner in Steves Suite laufen lassen?"
//Captain Rogers hat ausdrücklich danach verlangt, Sir.// Zur Bestätigung seiner Worte ertönte ein leises Knacken und JARVIS spielte eine Aufnahme ab, die er offenbar noch vor wenigen Stunden aufgezeichnet hatte.
Kannst du auch Musik abspielen?
//Alles, was Sie wünschen, Captain.//
Wagner?
//Sicherlich.//
Dann vielleicht 'Das Rheingold'?
//Wie Sie wünschen.//
Die ersten Takte des "Rheingolds" liefen an, bevor es wieder knackte und JARVIS verkündete: //Zeitpunkt der Aufnahme: 7:49 Uhr, 22 Sekunden bis 7:50 Uhr, 56 Sekunden.//
Steve krallte die Hände in den Stoff seiner Hose und wurde bleich. Ob vor Ärger oder Schreck ließ sich schwer sagen. "Das kann nicht sein! Zu dem Zeitpunkt habe ich noch geschlafen."
//Alles deutet darauf hin, dass Captain Rogers bei dieser Unterhaltung selbst anwesend war. Tatsächlich hat sich der Captain aber danach noch einmal schlafen gelegt.//
"Hm." Tony verfiel ins Grübeln. Etwas an der Aufnahme hatte seltsam geklungen. Steves Worte waren eigenartig überartikuliert und ein bisschen abgehackt, so als hätte er seine Stimme schon lange nicht mehr eingesetzt. Nicht zu vergessen seine Reaktion in der vorangegangenen Nacht, als er direkt in Tonys Kamera geblickt hatte. Waren Schlafwandler zu solchen Dingen fähig? Oder war das Zufall gewesen?
Halb in Gedanken versunken, murmelte er: "JARVIS, erstelle bitte einen neuen Ordner auf meinem privaten Laufwerk und lege eine Kopie der Aufnahme darin ab. Suche mir außerdem alles zum Thema Somnambulismus heraus, was du finden kannst – Ebooks, Behandlungsmethoden, eigenartige Fälle – und schicke mir das ganze runter in die Werkstatt. Steve, du kommst mit."
"Was hast du vor?", fragte Steve, noch während er aufstand und ihm hinterher lief. Tony sah ihn an und grinste.
"Na, was wohl? Kaffee kochen. Und dann werden wir das Rätsel lösen."
TBC
no subject
Date: 2012-12-28 09:26 am (UTC)"Soll das heißen, letzte Nacht hat dir überhaupt nichts bedeutet?", fragte Tony gespielt schockiert und griff sich theatralisch an die Brust.
*snicker*
Sorry ... bin mit kleinen Dingen zu erfreuen ;)
* Die Figuren natürlich schon, aber nicht den Film ... keine Zeit mehr für Kino *grummel*
Psst ... bei vier Montae zuvor ist ein tag nicht richtig und der Text sitzt nicht kursiv