ayascythe: Pink Reaper (Iron Man ARC reactor)
[personal profile] ayascythe
Autor: [livejournal.com profile] ayascythe
Fandom: The Avengers (MCU)
Pairing: Steve Rogers/Tony Stark
Rating: R (NC-17 für das letzte Kapitel)
Language: Deutsch/German
Wortanzahl: 45.242
Einstufungen/Warnungen: Mystery, Drama, Angst, Slash
Beta: [livejournal.com profile] 3ngel
Disclaimer: Das Avengers-Universum gehört Marvel und jegliches Copyright liegt bei ihnen. Ich habe mir lediglich die Charaktere ausgeliehen, um ein bisschen mit ihnen zu spielen. Ich mache hiermit kein Geld.

Prolog | Kapitel 1: Wahrscheinlichkeiten | Kapitel 2: Finsternis | Kapitel 3: Schlaflos | Kapitel 4: Vertigo | Kapitel 5: Stille | Kapitel 6: Sturm | Kapitel 7: Narben | Epilog

AO3 | FF.de
Fanart-Masterpost von [livejournal.com profile] sweetestremedy: LJ | AO3


Kapitel 3: Schlaflos

I hate to talk like this
I hate to act as if
There's something wrong that I can't say
I have this dream at night
Almost every night
I've been dreaming it forever
It's easy to remember it

It's always cold
It's always day
You're always here
You always say
I'm all right, I'll be ok
If I can keep myself awake

– Keep myself awake, Black Lab


"Der Mistkerl fühlt sich absolut sicher", beschwerte sich Tony und pfefferte sein Tablet auf einen der Tische. Sie hatten sich in der Werkstatt eingebunkert und waren von zahllosen, leuchtenden Monitoren umringt, die alle das gleiche zeigten: Steve, und gleichzeitig auch nicht Steve, mit schwarzen Augen und einem überheblichen Lachen auf den Lippen.

"Das liegt daran, dass wir ihm nichts anhaben können", meinte Bruce. "Und er weiß das."

"Nicht unbedingt." Beide drehten sich gleichzeitig zu Steve um, der gedankenverloren vor einem der Monitore saß und die Aufnahmen studierte. "Er liest sehr viel. Er versucht sich an das neue Zeitalter anzupassen. Er beobachtet."

"Woher willst du das wissen?", fragte Tony und Steve lächelte, als hätte er einen Witz gemacht, den nur er verstehen konnte.

"Weil ich es genauso getan habe. Dieses Jahrhundert kann sehr überwältigend sein und er hat keinerlei Verbündete. Was immer er vorhat, er wartet ab, bis sich ihm eine Gelegenheit bietet."

"Bis dahin könnte es zu spät sein." Tony verzog das Gesicht. "Er könnte einer vom anderen Team sein – den Bösen, meine ich –, was dann? Wir müssen herausfinden wer er ist und was er vorhat. Und vor allem, wie wir ihn loswerden können."

"Das, was er da gesagt hat: 'Ich wollte wissen, wer gewonnen hat.' Was ist damit?" Steve hielt die Aufnahme an, tippte auf den Bildschirm und mit einem Mal wirkte er beunruhigt. "Es ist nur so ein Gedanke, aber ..."

Doch Steve sprach nicht weiter. Er hielt inne, blinzelte einfach nur und schüttelte dann den Kopf. "Nein. Vergesst es."

Über seine Schulter hinweg konnte Tony einen bedeutungsvollen Blick von Bruce auffangen. Momente wie diese kamen in letzter Zeit immer häufiger vor und zeigten nur, dass Steve sich vor Müdigkeit eigentlich kaum noch konzentrieren konnte.

Tony erkannte Erschöpfungserscheinungen, wenn er sie sah, und die von Steve schienen keinen Deut besser zu werden. Er hatte ständig Kopfschmerzen und all seine Bewegungen bekamen ein gewisses Maß an Trägheit. Als ob er sich unter einer Taucherglocke aus Taubheit und Verschwommenheit bewegte, und das war ein Zustand, den Tony schon mehr als einmal selbst erlebt hatte. Meistens half Koffein oder ein paar widerwillige Stunden Schlaf, doch Steve schleppte diesen Zustand nun schon seit über einer Woche mit sich. In Steves Fall war "Schlaf" leider nicht die Lösung, sondern das Problem. Sein Körper konnte sich nicht ausruhen, denn sobald er die Augen für länger als ein paar Stunden schloss, übernahm der Andere. Nicht einmal hochkonzentrierte Beruhigungsmittel konnten das aufhalten.

Tony wünschte sich, er könnte etwas tun. Steve redete nicht darüber, doch manchmal sah er Tony an. Auf eine Weise, die so hilflos wirkte, so voller Sorge, dass Tony glaubte, dass Steve sich ihm jeden Moment anvertrauen würde. Nur, dass Steve dann die Lippen zusammenpresste und dieser Moment nie kam.

Tony wusste, dass Steve einmal ein zerbrechlicher kleiner Typ gewesen war, kannte die Geschichten von seinem Vater, hatte erlebt, wie Steve lieber auf eigene Faust nach Beweisen gesucht hatte, anstatt auf Tonys und Bruces Ergebnisse zu warten. Steve war ein Teamplayer, ja, doch er hatte die haarsträubende Angewohnheit das wirklich Wichtige allein auf seinen Schultern tragen zu wollen. Vielleicht hatte er nie gelernt nach Hilfe zu fragen, wenn es darauf ankam.

Verdammter Gutmensch, dachte Tony, zog eine der Aufnahmen zu sich heran und lächelte freudlos vor sich hin.

Bruce zog sich die Brille von der Nase, um sie zu polieren - einer seiner vielen, nervösen Macken. Er wirkte besorgt und das zurecht. Doch er sah vor allem Tony dabei an. Als hätte Tony ein besonderes Anrecht darauf, sich um Steves Wohlergehen zu sorgen. Pah. "So oder so kommen wir alleine nicht weiter. Außerdem müssen wir uns um SHIELD kümmern. Sie werden anfangen Fragen zu stellen."

"Und was schlagt ihr vor?", wollte Steve wissen und sah von seinem Monitor auf.

Tony grinste. "Wir rufen Chaos und Körperverletzung an, was sonst?"

*

"Was tust du da?"

Tony fiel beinahe der Schweißbrenner aus den Händen, als Steves Atem heiß über seinen Nacken blies. Einen Augenblick lang fummelte er hektisch mit dem Griff herum, verbrannte sich dabei fast seine Hände und seine Arbeit, bevor er das Ding schließlich abstellen konnte und seine Schweißermaske nach oben schob.

"Heilige Scheiße, Steve!", schnappte er und versuchte, das rasende Hämmern seines Herzens gegen seinen Brustkorb zu ignorieren. "Schleich dich nicht so an!"

Steve lächelte einfach nur und hatte nicht einmal den Anstand, reumütig auszusehen. "Der Lärm war zu groß. Du hast mich nicht gehört."

"Lärm", wiederholte Tony verständnislos. Nun, da er sich darauf konzentrierte, nahm er auch das kreischende Gitarrensolo von Thunderstruck wahr. Und nun, da er auf die Uhr sah, wurde ihm auch bewusst, dass er schon seit neun Stunden in der Werkstatt war. "Dieser Lärm nennt sich AC/DC. Erinnere mich daran, dass ich dir noch immer einen Crashkurs in moderner Musik geben muss. Und Popkultur. Und allem anderen. Dein Wissensstand ist erbarmungswürdig. - JARVIS, Musik leiser." Müde rieb er sich übers Gesicht. Kaffee wäre jetzt nicht schlecht. "Was gibt's, Cap?"

"Nichts besonderes", meinte Steve mit einem abwesenden Blick in den Augen. Er schien Tony nicht wirklich zu beachten, sondern sah sich vielmehr aufmerksam in der Werkstatt um. "Ich wollte nur wissen, ob ihr etwas Neues herausgefunden habt."

Sein Blick glitt über die Holotische mit ihren leuchtenden 3D-Blaupausen, über halbfertige Projekte, Gerätschaften und Werkzeuge. Er griff eines der handlicheren Messgeräte vom Tisch und in seinen Augen blitzte so etwas wie vages Verständnis auf, eine Art Faszination für die Technik dahinter, die Tony nicht erwartet hatte. Schließlich legte Steve das Gerät wieder zurück und sein Blick richtete sich auf ihn. Tony war sich nicht sicher, ob er das besser fand.

"Nicht wirklich", sagte er stirnrunzelnd.

"Du hast mir nie erklärt, wie das da funktioniert."

Steve deutete mit seinem Zeigefinger auf Tonys Brust, bevor er mit der Fingerspitze genau die runde, verglaste Fläche in der Mitte antippte. Tony unterdrückte den Impuls das Gesicht zu verziehen, weil das eine verdammt ... unangebrachte Geste war. Zu nah. Zu - etwas. Nicht einmal Rhodey oder Pepper hätten es jemals gewagt, den Reaktor ungefragt anzufassen.

"Der ARK-Reaktor?" Tony leckte sich über die trockenen Lippen und machte einen kleinen Schritt zurück. Minimal klein, aber genug, damit Steves Finger ein paar Zentimeter von seiner Brust entfernt war. "Das weißt du doch. Er erhält mich am Leben."

"Hmm", nickte Steve. "Aber du hast mir nicht gesagt wie. Was ihn antreibt. Wie er funktioniert. Ich fand schon immer, dass sich der Reaktor und der Tesserakt ähneln. Ist es eine ähnliche Technologie?"

"Wie? Soll ich dir etwa den technischen Aufbau erklären?"

"Warum nicht?" Steves Lächeln löste ein Prickeln in seinem Nacken aus. Tony hätte gerne behauptet es läge daran, dass er auf Captain America scharf war, seit er angefangen hatte sich selbst zu befriedigen. Diesmal nicht. Dieses Mal war es das Gefühl, das irgendetwas nicht stimmte.

"Weil ich noch zu tun habe", fing er an zu plappern. Er griff wahllos nach einer Flachzange, beugte sich über seine Arbeit und tat so, als ob er sich wieder darin vertiefte. "Sorry, Cap. Aber du weißt doch wie das ist: Nur weil ich die Welt vergesse, vergisst die Welt meine Firma nicht. Ich muss das hier noch zu Ende bringen, dann können Bruce und ich deine nächsten Untersuchungen starten. Okay?"

"Sicher."

Einen Moment lang hörte er nichts außer dem leisen Rieseln von AC/DC aus den Lautsprechern. Dann war da wieder heißer Atem direkt an seinem Nacken, zu nah, zu unerwartet und dieses Mal ließ Tony sein Werkzeug fallen.

"Vielleicht solltest du es damit versuchen", meinte Steve mit einem Lächeln, das beinahe spöttisch wirkte. Beinahe. Wenn es nicht Steve gewesen wäre.

Tony lächelte zurück, beinahe so etwas wie nervös. Beinahe – wenn er nicht Tony Stark gewesen wäre.

"Danke", sagte er und nahm den Seitenschneider entgegen, der ihm gereicht wurde.

*

"JARVIS?"

//Womit kann ich dienen?//

"Alle Rechte für Steve Rogers auf die Werkstatt zurückziehen."

//Sir?//

"Tu es einfach. Lass ihn nicht mehr alleine hier rein. Und falls er sich in der Nähe aufhält, will ich sofort verständigt werden, ist das klar?"

//Verstanden, Sir.//

*

Clint und Natasha trafen nur wenige Tage nach Tonys Anruf im Stark Tower ein. Tony fing sie höchstpersönlich in der Lobby ab und erntete zwei Paare hochgezogener Augenbrauen, als die Fahrstuhltür sich öffnete und ihn zum Vorschein brachte.

"Stark."

"Agent Romanov. Legolas."

"Darüber reden wir noch", meinte Clint bissig lächelnd und stieß Tony scheinbar kumpelhaft, aber äußerst schmerzhaft gegen die Schulter. Natasha bedachte die beiden mit einem ungnädigen Blick und trat an ihnen vorbei in den Fahrstuhl.

"Okay, warum sind wir hier?"

"JARVIS, lass dir bitte Zeit, bis wir oben ankommen."

//Verstanden, Sir.//

Während Tony zu erzählen begann, verringerte sich die Geschwindigkeit ihres Fahrstuhls auf ein Minimum. Keiner von ihnen hätte wohl den Unterschied bemerkt, wenn nicht die Stockwerkanzeige kriechend langsam die Ziffern gewechselt hätte.

"... und das wichtigste ist: kein Wort zu SHIELD. Die stecken Cap nur in einen Glaskasten und führen stümperhafte Experimente an ihm durch."

"Und du denkst, du kannst es besser?"

"Ich denke nicht, Barton. Ich weiß. Außerdem habe ich bei weitem das bessere Equipment. Und Bruce."

Natasha verzog eine perfekt gezogene Augenbraue. Clint brummte.

"Hört mal. Wir brauchen wirklich jemanden, der SHIELD für uns in Schach halten kann. Fury kriegt Zustände, wenn er nicht regelmäßig etwas von seinem Liebling hört", meinte Tony und fuchtelte wild gestikulierend herum. "Steve denkt, ihr seid vor allem hier, um uns den Rücken zu decken. Aber das ist noch nicht alles Ihr müsst tagsüber ein Auge auf ihn werfen."

"Ich bin mir sicher, Cap kann alleine auf sich aufpassen."

"Kann er nicht." Er richtete den Blick zur Decke, bevor er zugab: "Es tritt auch tagsüber auf. Das Phänomen. Bis jetzt nur einmal, aber …" Aber ja. In kurzen Worten schilderte er den Vorfall in der Werkstatt, wie Steve auf einmal weitaus mehr von Technik verstanden hatte, als es üblicherweise der Fall war. "Wir reden hier von dem Mann, der von einer Relais-Station gerade so sagen kann, dass sie durch Elektrizität betrieben wird! Erzählt mir nicht, dass das normal war, denn das war es nicht. Außerdem war er anders."

Nicht mehr Steve. Die Wärme hatte gefehlt. Die bedingungslose Freundlichkeit. Ein Kribbeln durchzog Tonys Nacken, als er an den heißen Atem zurückdachte, an Steves rätselhaftes Lächeln, sein lauerndes Verhalten. Es war, als hätte er genau gewusst, was für eine Wirkung er auf Tony hatte und das konnte einfach nicht sein. Tony hatte alles Erdenkliche getan, um sich seine Schwärmerei für den Supersoldaten nicht anmerken zu lassen. Und Steve hatte stets so gewirkt, als ob er nichts davon mitbekommen hatte.

"Dir ist klar, was du damit implizierst? Dass-"

"-Steves Aussetzer sich nicht nur auf seine Schlafphasen beschränken? Genau das. Oder dass er inzwischen so erschöpft ist, dass er ungewollt einnickt und der Andere übernimmt."

Auf einmal war die Luft so dick, dass man sie mit einem Messer durchtrennen konnte. Clint atmete geräuschvoll aus. Natasha verschränkte die Arme und starrte Tony an. Er wollte es nur ungern zugeben, aber selbst eine so einfache Geste wie diese ließ die Spionin schon bedrohlich wirken. Vielleicht hätten sie die beiden schon viel, viel früher rufen sollen.

"Ja, das hättet ihr", brummte Clint ungerührt. Hatte Tony das eben laut gesagt? Ups. "Nat ist Spionin. Und ich war vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls unter dem Einfluss des Tesserakts. Ich weiß, wie es ist, die Kontrolle zu verlieren."

Es sollte wohl beiläufig klingen und das tat es auch. Tony sah, wie Natasha sich einen Moment lang zu Clint hinüber neigte und sich ihre Hände berührten. Es hätte Zufall sein können, eine Berührung, die durch das minimale Schwanken des Fahrstuhls zustande kam. Abgesehen von der Tatsache, dass Stark-Fahrstühle nun einmal nicht schwankten. Doppeltes Ups. Tony blickte abermals zur Decke, tat so, als wäre er kein unsensibler Idiot und scheiterte kläglich.

"Rogers ist nicht dumm", gab Clint zu bedenken. "Er wird merken, wenn wir ihn nicht in Ruhe lassen."

"Das Risiko gehe ich ein."

"Und der Andere?", hakte Natasha nach. "Habt ihr etwas aus ihm herausbekommen?"

"Bruce und ich haben mehrmals versucht mit ihm zu reden, aber er hat immer wieder abgeblockt."

"Natürlich. Überlasst das mir."

Tony nickte und wusste nicht, um wessen Wohlergehen er sich mehr sorgen sollte: das von Natasha oder das von Steve.

*

Natasha benötigte einen halben Tag mit den Aufnahmen, um die gleichen Schlüsse zu ziehen, für die sie alleine mehrere Tage gebraucht hatten. Allerdings setzte sie noch einen oben drauf.

"Er will den Tesserakt", verkündete sie, nachdem Tony ihr noch einmal genau den Vorfall in der Werkstatt geschildert hatte. "Zumindest wollte er ihn bis vor kurzem. Er scheint etwas damit vorzuhaben."

"Haben sie das nicht alle?" Clint wirkte unbeeindruckt, während er sich mit dem Kinn auf der Lehne seines Stuhls abstützte. Wieder einmal saßen sie alle in Tonys Werkstatt – eine furchtbare Angewohnheit, die er ihnen baldmöglichst wieder austreiben musste –, während Steve in seiner Suite war und schlief. Oder es zumindest versuchte.

"Nur, dass der Tesserakt nicht mehr zur Verfügung steht", gab Natasha zu Bedenken. Sowohl sie als auch Clint ignorierten Tonys nervöses Gefuchtel mit einem Schraubenschlüssel."Das heißt, er wird nach einer alternativen Energiequelle suchen."

Die beiden wechselten einen bedeutungsvollen Blick über Tonys Schulter hinweg, der ihm nicht gefiel. Ganz und gar nicht. Unwillkürlich wanderte seine Hand zu dem kaum wahrnehmbaren Summen in seiner Brust.

"Hast du noch mehr?", wollte Clint nach einer kurzen Pause wissen.

Natasha schüttelte den Kopf. "Er ist ziemlich gut. Und im Gegensatz zu Loki nicht so leicht zu knacken. Die meisten Männer, die sich gerne selbst reden hören, machen schnell einen Fehler. Wer oder was auch immer das ist: Er ist schlau genug, den Mund zu halten. Die Bemerkung über den Zweiten Weltkrieg, allerdings, das wäre ein Anfang."

Sie wirkte nachdenklich, was für Natasha Romanov-Verhältnisse das Äquivalent zu "großer Beunruhigung" war. Das, mehr als alles andere, ließ Tony schlucken.

"Zweiter Weltkrieg", wiederholte er leise und nickte. Schon Steves Kommentar dazu hatte ihn ins Grübeln gebracht. Der Zweite Weltkrieg, die seltsame Vorliebe für Wagner, das Interesse für Technik … Und dann die Zeitungsseite, die der andere Steve damals angestarrt hatte. – Vielleicht hatte sein Augenmerk ja gar nicht dem Artikel, sondern dem Comic gegolten.

Johan Schmidt, der Red Skull.

Konnte es möglich sein? Tony hatte schon einiges über ihn in den alten Unterlagen seines Vaters gelesen und die Parallelen waren nicht von der Hand zu weisen. Allerdings galt er als verschollen, wurde in den Akten für tot erklärt. Es bestand eigentlich keine Möglichkeit, dass er tatsächlich zurück war, und schon gar nicht in Form eines Poltergeists, der von anderen Menschen Besitz ergreifen konnte.

"Leute, ich habe da eine unausgegorene Idee ...", begann er, doch in dem Moment kam Bruce in die Werkstatt gestolpert und all seine Theorien gerieten in Vergessenheit.

"Das ist nicht dein Ernst", meinte Tony mit einem Blick auf die uralten Bücher, die Bruce zwischen Glasmonitoren und Metallteilen aufstapelte. Mit der Brille, die ihm fast die Nase herunterrutschte und den hochgekrempelten Ärmeln sah er aus wie ein schusseliger Bibliothekar, doch seine Miene war absolut ernst.

"Tony, wir müssen jede Möglichkeit in Erwägung ziehen. Wissenschaft bringt uns nicht weiter, also vielleicht sollten wir es mit Magie versuchen."

Tony nahm einen Titel nach dem anderen vom Stapel, las die Titel vor und warf sie achtlos auf den Boden: "Nordische Sagen ... Okkultismus ... Exorzismus ... Besessenheit - Voodoo-Rituale?! Scheiße, Bruce, wir sind doch nicht bei Buffy, der Vampirjägerin!"

Bruce sah ihn weiterhin unnachgiebig an und Tony hätte schwören können, dass er sich diesen zutiefst vorwurfsvollen Blick von Steve abgeschaut hatte. Hinter sich konnte er die bohrenden Blicke von Natasha und Clint im Rücken spüren, die das Schauspiel abwartend mitverfolgten.

"JARVIS soll einen Algorithmus programmieren und die Seiten scannen", räumte er schließlich trotzig ein.

"Wir verlieren unnötig viel Zeit, wenn wir die Bücher auch noch digitalisieren müssen und das weißt du."

"Ich werde sie trotzdem nicht lesen. Vielleicht sollten wir es doch mit der kognitiven Rekalibrierung versuchen."

"Dann gib sie uns", meldete sich Natasha plötzlich, ging an ihm vorbei und begann die Bücher sorgsam aufzulesen. "Clint und ich sind schnelle Leser und gut darin, wesentliche Informationen aus Texten zu entnehmen. Außerdem sind wir unvoreingenommen. Vielleicht fällt uns etwas auf, das ihr ansonsten ausgeschlossen hättet."

"Danke", sagte Bruce mit einem spitzen Blick in Richtung Tony.

Clint schüttelte den Kopf. "Cap ist auch unser Teamkamerad. Bloß weil Stark am Rad dreht, ist das noch lange nicht nur sein Problem."

Tony widerstand dem kindischen Drang, Clint den Schraubenschlüssel gegen den Kopf zu werfen und lächelte ihn stattdessen säuerlich an.

"Abgesehen davon", fügte Natasha mit einem katzenhaften Funkeln in den Augen hinzu, "schulde ich Cap noch etwas. Und ich stehe ungern in jemandes Schuld."

*

Steve entwickelte sich zu einem Nervenbündel. Er war entweder gereizt oder überdreht oder beides, vermied es alleine zu sein, wo er nur konnte. Vielleicht aus Angst, aus Versehen einzunicken und an einem völlig anderen Ort wieder aufzuwachen. Was Tony absolut verstehen konnte. Was er nicht verstand, war, dass Steve aus einem unerfindlichen Grund Tonys Gesellschaft allen anderen vorzuziehen schien. Mehr als einmal lungerte er bei Tony in der Werkstatt herum, um zu zeichnen. Manchmal redete er dabei, ungewöhnlich viel und lange, mit der gezwungenen Hektik eines Mannes, der gegen den Schlaf ankämpfte. Nicht, dass Tony sich über die Gesellschaft beschwerte. Himmel, bestimmt nicht. Allein, nach dem seltsamen Interesse am ARK-Reaktor konnte er nicht umhin sich zu fragen, welcher Steve denn wirklich so versessen auf ihn war.

Wo Steve war, waren auch einer oder beide der Meuchelmörder-Zwillinge nicht weit. Eines musste Tony ihnen lassen: Die Sache mit dem Babysitten lösten sie äußerst subtil und einfallsreich. Clint verabredete sich fast jeden Tag mit Steve zum Nahkampftraining, Natasha schleppte ihn mit zum Shoppen oder anderen Erledigungen. Manchmal saßen sie auch zusammen mit Steve in der Werkstatt, mit einem ihrer Hokuspokus-Bücher auf dem Schoß, bis irgendwann Bruce mit müden Augen aus seinem Labor gekrochen kam und verkündete, dass er wieder nichts herausgefunden hatte.

Tony ertrug nur ein gewisses Maß an Personen in seinem Heiligtum, weshalb er sie nach einer Weile einfach rausschmiss. Komischerweise landeten sie dann fast immer in Tonys Wohnzimmer. (Wirklich, wozu hatte er jedem eine Suite eingerichtet, wenn sie doch alle bei ihm abhingen?) Und weil sie schon einmal alle da waren, endeten die Tage meist mit einem Klassiker der Filmgeschichte und einer Riesenschüssel Popcorn. Jemand musste sich schließlich um Steves Allgemeinbildung kümmern.

Es wäre einfach gewesen sich einzubilden, dass alles in Ordnung war, dass sie eine verrückte Wohngemeinschaft waren, die nicht aus einem ganz speziellen Grund im Stark Tower versammelt war. Doch dann war da Steve, mit bleichen Wangen und dunklen Augenringen, weil noch nicht einmal das Superserum seinen wochenlangen Schlafmangel ausgleichen konnte.

Manchmal, wenn ein Film besonders lange ging, griff er nach Tonys Hand und hielt sich daran fest, als könnte er sich auf diese Weise am Wachsein festklammern. Tony war sich nicht einmal sicher, ob Steve sich dessen bewusst war, aber er drückte jedes Mal zurück und hielt Steves Hand bis zum Ende des Films. Wenn seine Finger danach schmerzten, erwähnte er es mit keinem Wort.

Einmal, zweimal, dreimal nickte Steve ein.

Tony bemerkte es nicht, bis Steves Kopf sanft gegen seine Schulter fiel. Obwohl der Film weiterlief, konnte man spüren, wie sich ein angespanntes Schweigen über den Raum legte. Tony fühlte die Blicke der anderen auf sich, sah aus dem Augenwinkel, wie Natasha ihren Körper anspannte.

"Stark."

Es lag eine Aufforderung darin, aber Tony wollte nicht, wollte Steve einfach dort dösen lassen, weil er so friedlich und arglos aussah. Vielleicht zum ersten Mal seit er hier im Stark Tower aufgekreuzt war. Doch er wusste auch, dass Steve jeden Moment seine Augen aufschlagen und der Andere ihnen Hallo sagen könnte. Steve durfte hier nicht schlafen.

Also setzte Tony sein falsches Grinsen auf, bevor er Steve wachrüttelte. Er versuchte sanft dabei zu sein, aber Steve schreckte jedes Mal mit einem tiefen Atemzug und einem Funken Panik in den Augen hoch.

"Was ist passiert?"

"Nichts", und Tonys Lächeln wurde wehmütig. "Du bist nur kurz eingenickt."

*

Tony hasste diesen Teil. Er konnte zwar Scherze darüber machen und gleichgültig wirken, aber die Sache verlor einfach nie ihren Nervenkitzel. (Er nannte es Nervenkitzel, weil er dem Gefühl von Enge und Hilflosigkeit in seiner Brust nicht die Bezeichnung "Angst" geben wollte. Das würde zu viel verraten, über ihn und den Reaktor und wie sehr er davon abhängig war - in mehr als einer Weise.) Es klickte und zischte leise, als er den Reaktor aus seiner Fassung löste. Vorsichtig, vorsichtig, vorsichti-

"Tony, Bruce sagt, du sollst dir- oh."

Steve stand in der Tür des Wohnzimmers und starrte Tony mit großen Augen an. Nun ja. Er schien vor allem von dem klaffenden Loch in Tonys Brust in den Bann geschlagen zu sein. Tony war schon bei vielen Dingen erwischt worden, fast alle weitaus peinlicher und meistens noch weniger bekleidet. Da war zum Beispiel die Sache mit Rhodey, dem roten String-Bikini und dem Schimpansen (eine lange, lange Geschichte). Trotzdem hatte er sich noch nie so nach heruntergelassenen Hosen gefühlt wie jetzt.

"Es tut mir Leid, ich wollte nicht- Bruce, wollte, dass ich-", stammelte Steve, blass um die Nase, bis er ein Tablet zeigte, als enthielte es die Antwort auf alle Fragen. "Messergebnisse. Und Bruce möchte mit dir über etwas reden. Er hat mir nicht gesagt, worüber."

Tony wäre wohl noch eine halbe Stunde so stehen geblieben, unfähig etwas zu tun, wenn sich nicht das schleichende Stechen und Ziehen in seiner Brust bemerkbar gemacht hätte. Keine Zeit für Schamgefühl.

"Natürlich", sagte er schließlich mit einem Zucken der Mundwinkel. "Leg es da hin. Und mach die Tür zu, es zieht."

Er wandte sich ab, um mit geübten, effizienten Griffen den Kern des Reaktors auszutauschen. Seit er das neue Element (wieder-)entdeckt hatte, musste er das nur noch sehr selten, aber es musste dennoch getan werden. Hinter sich hörte er Schritte näher kommen.

"Entschuldige", murmelte Steve erneut. Vielleicht starrte er immer noch - Tony konnte es nicht so genau aus dem Augenwinkel ausmachen. "Ich wollte nicht hereinplatzen."

"Schon okay. Ich muss das hier nur schnell fertig machen..." ... bevor ich umkippe. Mit der gleichen Vorsicht von eben schob er den Reaktor zurück in seine Brust, drehte und drückte, bis er in die Fassung einrastete und dort wieder unbeweglich und beruhigend fest saß. Erst dann erlaubte Tony sich wieder aufzuatmen. "Danke. Ich werde gleich runtergehen. Ich muss nur noch schnell- was?"

Steve sah ihn so ... an. Auf eine so durchdringende Weise, dass er nicht einmal sagen konnte, ob sie etwas Gutes oder Schlechtes bedeutete. Auf einmal wurde Tony äußerst bewusst, dass er noch immer mit nacktem Oberkörper dastand.

"Nichts." Steves Wangen färbten sich rosa. "Es ist nur ... Tut es weh?"

"Weh tun?"

"Der Reaktor."

"Ah", machte Tony ein wenig geistlos, lächelte gezwungen und griff nach seinem ölverschmierten T-Shirt. "Nein, keine Angst. Es ist", - er suchte nach einem Vergleich, der nicht so viel aussagte wie "eine lebenslange Erinnerung", und scheiterte - "Man gewöhnt sich daran. Und irgendwann vergisst man, wie es ohne war."

Nachdenklich sah Steve dabei zu, wie Tony sich wieder anzog. Einen Moment lang machte er den Eindruck, als wollte er noch etwas fragen. Dann schüttelte er kaum merklich den Kopf.

"Warum das Interesse?", fragte Tony. Er wollte es nicht. Er wollte es wirklich nicht, doch ein Teil von ihm musste daran denken, wie der andere Steve ihn beim letzten Mal angesehen hatte, wie er den Reaktor ungefragt berührt hatte, wie Natasha gesagt hatte: "Er wird nach einer alternativen Energiequelle suchen." Etwas davon musste sich wohl auf seinem Gesicht bemerkbar gemacht haben, denn Steve runzelte die Stirn.

"Du vertraust mir nicht." Es war keine Frage und Tony wurde von der Selbstverständlichkeit in Steves Stimme so überrumpelt, dass er beinahe zugestimmt hätte.

"Nein- doch! Ich meine, red keinen Unsinn, Steve. Du bist Captain America. Wer würde Captain America nicht vertrauen?"

"Du, zum Beispiel."

"Ich bitte dich. Das ist doch lächerlich."

"Ja? Dann erzähl mir doch, was ihr ständig im Labor treibt. Oder was ihr die letzten Tage herausgefunden habt."

Touché. Tony wedelte abwehrend mit den Händen. "Das würde dich nur langweilen, wirklich-"

"Lüg mich nicht an, Tony." Steve lachte auf, doch es klang hohl und freudlos, nach einem schlechten Witz, den nur er selbst verstand. "Haltet ihr mich für so naiv? Denkst du, ich merke nicht, dass mir Erinnerungen fehlen? Oder dass Clint und Natasha mich babysitten, wenn du oder Bruce nicht da seid? Ganz zu schweigen davon, wie du mich ansiehst!"

"Das-" ist nicht wahr, wollte Tony sagen, doch dann sah er er in Steves Augen, klappte den Mund zu und, oh Mann. Diesen verächtlichen Blick hatte er schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen. Tony fühlte sich an den Tag auf dem Helicarrier zurückversetzt, an dem sie sich zum ersten Mal in die Haare bekommen hatten. Niemand konnte Tony so gut klein machen wie Captain America. "Du verstehst das alles völlig falsch."

"Lüg mich nicht an!" Das Tablet knallte geräuschvoll neben Tony auf den Tisch, als Steve es dort hinpfefferte. Steve behandelte Tonys Technologie normalerweise so vorsichtig wie rohe Eier, weil er ständig Angst hatte etwas kaputt zu machen. Wenn er sich so vergaß, konnte das nur heißen, dass er richtig sauer war. "Ihr haltet euch alle für so gut, aber ihr seid kein Stück besser als SHIELD! Die haben auch versucht mir etwas vorzumachen! Die haben mich auch nicht ernst genommen!"

Langsam trat er näher (zu nah, zu dicht und oh, Tony, das ist jetzt echt der falsche Augenblick für solche Gedanken). Seine Hände zitterten kaum merklich vor unterdrückter Wut. "Ich bin kein Opfer, das ihr in Watte packen müsst. Ich kann helfen! Also erzähl mir nicht, dass ich das nicht verstehen kann!"

Tony schluckte, denn natürlich hatte Steve allen Grund wütend zu sein. Doch da war auch dieses schwarze Blitzen in seinen Augen. Vielleicht war es das Licht, vielleicht war es die Wut – seine Augen waren auf jeden Fall viel zu dunkel, viel zu unberechenbar. Tony blinzelte. Krallte die Fingernägel in seine Handflächen.

"Könntest du?", fragte er schließlich. Es klang schärfer als gewollt. Andererseits gab es wohl keine rücksichtsvolle Art, diese Dinge auszusprechen. "Kannst du uns helfen und garantieren, dass der Andere uns dabei nicht sabotiert? Kannst du mir garantieren, dass wirklich du das gerade gesagt hast?"

"Ich ..." Steve ballte die Hände zu Fäusten. Für einen Moment glaubte Tony, er würde ihm einen Kinnhaken verpassen. Doch Steve sah ihn einfach nur an, bis schließlich seine Schultern nach unten sackten. All die Wut schien mit einem Mal von ihm abzufallen; zurück blieben Ernüchterung und Resignation.

"Cap", sagte Tony nur und unterdrückte das Bedürfnis nach Steves Hand zu greifen. Etwas leiser schob er hinterher: "Steve."

"Es ist okay. Ich würde mir auch nicht trauen. Es ist alles nur so ..." Steve fuhr sich mit der Hand durch die blonden Haare und seufzte. Ein müdes, bitteres Lächeln spielte um seine Lippen. "Es macht mich wahnsinnig, wenn ich nichts tun kann. Und dieses ständige Beschwichtigen und im Unklaren sein, davon hatte ich damals mehr als genug. Ihr seid meine Freunde und ich ertrage es nicht, wenn ihr mir etwas vormacht. Ihr müsst mir nicht alles sagen, aber bitte lüge mich nicht an, Tony."

"Okay." Tony nickte, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte. Er hatte das Bedürfnis zu faseln, wollte sie beide mit Worten ersticken, bis nichts mehr von dieser unerträglichen Stimmung zwischen ihnen übrig blieb. Doch vor allem wollte er diesen Ausdruck von Steves Gesicht wischen, der von Niederlage und Aufgeben sprach. Steve durfte nicht aufgeben. Steve musste ihm Kontra geben, sich mit aller Kraft gegen ihn stemmen, weil er das immer tat und weil sonst nichts mehr richtig war.

Erst dann hängte er sich an diesem einen Wort auf.

"Freunde?", plapperte er nach. Er war sich ziemlich sicher, dass er glotzte.

"Ja. Ihr seid die einzigen Freunde, die ich in diesem Zeitalter habe und-" Steve unterbrach sich. Er setzte zu einer Frage an, doch dann schien er zu verstehen und etwas in seinem Gesicht schien in sich zusammen zu fallen. "Oh. Na ja. Ich wollte nicht anmaßend sein. Ich weiß, dass ich dir bei weitem nicht viele Gründe gegeben habe, mich als solchen anzusehen. Tut mir Leid."

"Nein, schon okay." Tony wandte schnell den Blick ab, griff nach dem Tablet und tippte etwas Sinnloses darauf ein, weil Steves Augen wirklich unerträglich groß und blau waren. Der Mann wirkte wie ein übergroßer getretener Welpe. Und er musste endlich aufhören, sich für alles zu entschuldigen. "Freunde sein ist cool. Wir können Freunde werden. Ich meine, wir können Freunde sein. Im Prinzip sind wir schon die allerbesten Kumpels. Ich weiß gar nicht, wie du auf die Idee kommst, dass es anders wäre."

Hey, Tony meinte das sogar ernst. Mit Steve befreundet sein war mehr als er jemals hätte erwarten können. Es war nur nicht ganz das, was er wollte. Er schielte zu Steve hinüber, der lächelte. Zaghaft, noch immer etwas wehmütig. Es hätte Tony nicht so aus der Bahn werfen dürfen, aber gottverdammt, das tat es.

"Das freut mich."

"Schon in Ordnung", murmelte Tony unbestimmt, während sein Fluchtinstinkt überhand nahm. Er musste hier weg, bevor er etwas herausplapperte, das er bereuen würde. "Ich bin bei Bruce im Labor, falls du mich suchst. Und Steve?"

"Hm?"

"Ich vertraue dir. Mit meinem Leben."

Das Lächeln auf Steves Lippen wurde breiter, aufrichtiger, und seit langem wieder so etwas wie unbeschwert. Ein Steve Rogers-Lächeln, das Hunderten von Frauen das Herz höher schlagen lassen und die Unterwäsche vom Leib zaubern könnte. Im Moment kam jedoch nur Tony in diesen Genuss.

"Ich dir auch mit meinem", erwiderte Steve und das half Tony überhaupt nicht dabei, sich wieder zu fangen. Ganz und gar nicht. Er stammelte etwas vor sich, wand sich an Steve vorbei in Richtung Fahrstuhltür und atmete erst wieder auf, als die Türen geräuschlos hinter ihm zuglitten.

Irgendwann würde dieser Kerl ihn noch umbringen.

*

"Was ist denn mit dir passiert?", war das erste, was Tony hörte, als er das Labor betrat. Bruce war über ein Mikroskop gebeugt, hatte jedoch die Augenbrauen bis zum Haaransatz hochgezogen. Unwillkürlich fuhr sich Tony mit der Hand über das Gesicht, spürte die Hitze in seinen Wangen und fühlte, wie ihm noch ein bisschen wärmer wurde.

"Vielleicht ist er gegen eine Wand gelaufen", schlug Clint hilfreich vor. "Eine Wand namens Steve."

Tony bedachte ihn mit einem giftigen Blick. Neben Clint sortierte Natasha ungerührt Bücher in ein Regal, doch Tony könnte schwören, dass der Geist eines Schmunzelns über ihr Gesicht huschte. "Irre ich mich oder sollte nicht einer von euch auf diese 'Wand' aufpassen?"

"Bin praktisch schon weg." Clint salutierte ihm spöttisch zu, während Tony die Augen rollte. Um von sich abzulenken, griff er nach einem der Bücher. Es waren ausnahmslos okkulte Titel und Tony erkannte die meisten von ihnen als jene wieder, die Natasha und Clint die letzten Tage bei sich gehabt hatten.

"Habt ihr die schon alle durch?" Natashas Miene wurde eine Spur düsterer, als sie nickte. "Und was habt ihr herausgefunden?"

"Jede Menge", meinte sie und schob mit Sorgfalt die letzten Bände in das Regal. "Besessenheit gab und gibt es in vielen Kulturen und Religionen. Vieles davon basiert entweder auf durch Drogen herbeigeführte Zustände, manchmal auf psychischen Krankheiten. Wir kennen jetzt über zehn verschiedene Weisen, einen Exorzismus durchzuführen. Aber darunter ist nichts, was uns direkt weiterhilft."

Es wäre eine großartige Gelegenheit für ein "Ich hab es euch doch gleich gesagt!" gewesen, doch Tony sparte sich den Triumph. Er selbst hatte die alten Unterlagen seines Vaters bereits mehrmals nach Informationen über den Tesserakt durchforstet und war nicht schlauer geworden. Viele der Dinge darin waren für Tony nicht neu gewesen: das unvorstellbare Ausmaß an selbst-regenerierender Energie, die Nutzung als interdimensionales Portal. Er war auch nicht überrascht, als er einige rudimentäre Skizzen zum allerersten ARK-Reaktor-Modell entdeckte. Es war eine Vermutung, die er schon lange gehegt hatte: dass die Technologie seines Vaters in ihren Grundlagen auf dem Tesserakt basierte.

Was neu für ihn war, waren Experimente, in denen man versucht hatte, den Tesserakt als Speicher zu verwenden. Offensichtlich war er nicht nur in der Lage, Unmengen an Energie zu produzieren, sondern beliebig viele Informationen zu lagern. Wenn man davon ausging, dass sich derartige Informationen auch auf Menschen übertragen ließen, hieße das - was genau? Dass Steve tatsächlich besessen war? Dass seine Gedanken und Persönlichkeit mit Alien-Daten überschrieben wurden? War Tonys Idee mit dem Red Skull am Ende doch nicht so abwegig?

"Was ist mit dir, Doc? Hast du etwas?"

"Nicht direkt." Bruce zog sich die Brille von der Nase und winkte Tony zu sich heran. Ein Blick durch das Mikroskop offenbarte Tony eine kleine Ansammlung von Zellproben, deren Anblick irgendwie seltsam wirkte, ohne dass er genau sagen konnte warum.

"Siehst du das? Die Zellstruktur fängt an sich zu verändern."

"Gamma-Strahlung?", vermutete er, während Bruce besorgt Steves Werte auf einem Monitor überprüfte.

"Nein. Ich kenne die Auswirkungen von Gamma-Strahlung. Das ist es nicht."

"Aber was dann? Und warum hat es so eine aggressive Wirkung auf Steves Körper? Das Serum sollte damit eigentlich fertig werden."

Andererseits tat das Superserum schon eine Weile nicht mehr, was es sollte. Augenscheinlich schien alles in bester Ordnung, doch Steves körperlicher Zustand verschlechterte sich. Rapide. Etwas (oder jemand) schien ihm die Kraft zu entziehen und sorgte dafür, dass er, egal wie viel er auch aß, immer mehr an Gewicht verlor.

"Magie", schlug Bruce vor und erntete dafür einen bösen Blick von Tony. Wenn es sich nicht um ein wissenschaftliches Problem handelte, würde es auch keine wissenschaftliche Lösung geben, und er weigerte sich, das zu glauben. Er weigerte sich hilflos zu sein.

"Er könnte Recht haben, Stark." Natasha – Ninja-Attentäterin, die sie war – hatte sich lautlos zu ihnen gesellt und sah Tony nun über die Schulter. Er bemühte sich, nicht vor Schreck an die Decke zu springen. "Es gefällt mir genauso wenig wie dir, aber Magie wäre eine logische Schlussfolgerung. Außerdem werden Steves Anfälle häufiger. Neulich habe ich einen Nachmittag mit ihm in der Stadt verbracht und er konnte sich danach nur noch an Bruchstücke erinnern. Wir müssen einen Weg finden, das zu kontrollieren."

"Das ist ja alles schön und gut, aber welche Optionen haben wir denn noch? Wissenschaft bringt uns nicht weiter, eure okkulten Bücher offensichtlich auch nicht. Magie ist nicht die Lösung."

"Irdische Magie", warf Natasha ein. Tony und Bruce sahen sie an. "Es ist nur eine Ahnung, also nagelt mich nicht darauf fest."

Sie tippte auf das Buch, das sie noch in ihrer Hand hielt. Der Einband war aus Leder, alt und rissig, und auf dem Rücken konnte Tony den Titel erkenen: "Nordische Mythen". Sie klappte den Wälzer an einer vorgemerkten Stelle auf.

"Die Bücher geben nicht viel her, aber Odin hatte zwei Brüder: Vili und Vé. Die zwei scheinen ähnlich schwarze Schafe gewesen zu sein wie Loki. Sie übernahmen Odins Thron und vergriffen sich an Frigga. Als Odin zurückkehrte, hat er sie verbannt. Das alleine wäre ja nicht bemerkenswert, bis auf die Art und Weise, in der er das tat. Hier steht, dass er sie angelockt hat – mit einem leuchtenden Juwel, das sie in die ewige Verdammnis schicken sollte."

Ihr Mundwinkel zuckte zu einem leichten Lächeln, als sie die überraschten Blicke bemerkte. "Genau das dachte ich auch. Angenommen, dieser Juwel war der Tesserakt, und angenommen, die beiden Brüder wurden darin gefangen … Vielleicht hat es dann einer von ihnen geschafft, sich aus dem Tesserakt zu lösen."

"Das … ist eine Möglichkeit", gab Tony zu. Er versuchte sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, oder wie sehr es ihn fuchste, dass er nicht selbst darauf gekommen war. Er war ein Genie, verdammt nochmal, aber seine Sorge um Steve hatte ihn den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen lassen. "Allerdings brauchen wir dann jemanden, der Dinge weiß, die wir nicht mit unseren Mitteln herausfinden können. Jemanden, der sich mit nordischer Magie auskennt. Jemanden wie Thor."

Oder seinen Bruder, aber das sprach Tony lieber nicht aus.

Bruce polierte nachdenklich seine Brille, hielt dann inne und sah Tony an. "Aber wie sollen wir ihm eine Nachricht nach Asgard schicken? Wir haben nicht die Möglichkeiten für interdimensionale Kommunikation."

"Vielleicht müssen wir das nicht." Tony grinste diebisch, denn das war etwas, womit er sich auskannte. "Vielleicht muss die Nachricht nur groß genug sein, damit man sie auch von Asgard aus sehen kann."

*

"Und du bist dir sicher, dass das klappt?" Selbst über das Interkom konnte Tony die Skepsis aus Steves Stimme heraushören und sich das missbilligende Stirnrunzeln vorstellen.

"Thor hat gesagt, dass Heimdall alles sieht, oder? Einen Versuch ist es wert."

"SHIELD wird Fragen stellen. Fury hat dir noch nie getraut."

Es knackte in der Leitung, bevor Clint sich einmischte: "Kein Problem. Wir werden sagen, Stark hat wieder einmal etwas verbockt und in die Luft gejagt. Wäre ja nichts Neues."

"Aufpassen, Barton, sonst jage ich irgendwann aus Versehen deine Schießanlage in die Luft."

"Aufpassen, Stark. Noch kann ich dich mit bloßem Auge sehen und dir einen Explosivpfeil in den Hintern deiner Rüstung jagen."

"Nicht mehr lange!" Tony lachte auf, griff sein Päckchen noch fester und schraubte sich höher in die Luft, während er sein Flugtempo beschleunigte. Clint war ein Großmaul, aber in einem hatte er Recht: Wenn Tony etwas konnte, dann Dinge explodieren lassen.

"JARVIS, was sagt die Luftraumüberwachung?"

//Laut Plan dürften derzeit weder Passagier- noch Militärflugzeuge unterwegs sein.//

"Lass uns trotzdem noch ein paar Meter höher gehen."

//Wie viel sind ein paar Meter?//

"Ich denke am oberen Ende der Thermosphäre müssten wir gut aufgehoben sein."

"Eine geringere Höhe würde auch ausreichen", meldete sich nun auch Bruce. "Das letzte Mal musste dich der Hulk auffangen."

"Wo wäre denn der Spaß darin?" Tony hatte die letzte hauchdünne Wolkendecke schon eine Weile unter sich zurückgelassen und spürte allmählich den Rausch der Geschwindigkeit, der absoluten Freiheit. Es war zu lange her, dass er einfach nur ein paar Runden gedreht hatte. Zugegeben, er hatte viele gute Gründe, die Rüstung anzuziehen und Iron Man zu sein, aber das hier, Fliegen, war einer der besseren. "Da oben ist es doch noch harmlos. Außerdem: Glaubt ihr wirklich, ich hätte meine Rüstung nach dem Chitauri-Debakel nicht weltraumtauglich gemacht?"

"Du musstest ja nicht zusehen, wie dein Teamkamerad wie ein Stein auf die Erde zurast." Das war wieder Steve und er klang alles andere als zufrieden dabei, als bereite ihm die Erinnerung Unbehagen. "Muss das wirklich sein?"

"Mach dir nicht ins Hemd, Cap."

Anstelle einer Antwort gab Steve einen unbestimmten Laut von sich, der alles hätte bedeuten können, wahrscheinlich aber meinte: "Darüber reden wir noch."

Nur noch wenige Hundert Meter bis zur Zielhöhe. Tony drosselte seine Fluggeschwindigkeit, bis er schließlich gerade so viel Energie in die Stiefel schickte, damit er in der Luft schweben konnte. Erst dann warf er einen Blick auf sein Päckchen.

Das STARK SKYFIRE.0 war ein Prototyp, eine Art überdimensionales Feuerwerk, das Tony eigentlich für die Stark Expo entworfen hatte. Nach dem Rummel mit Ivan Vanko hatte er es jedoch in eine Ecke der Werkstatt verbannt und nicht weiter darüber nachgedacht. Für ihren jetzigen Zweck hatte er das SKYFIRE mit Hilfe eines Miniatur-ARK-Reaktors modifiziert und ein bisschen größer gemacht. Okay, "ein bisschen" konnte man streichen. Vor allem aber war es explosiver. Er aktivierte die Vorrichtung und ließ die Box im Schuhkartonformat los - dank eingebauter Mini-Repulsoren blieb sie an Ort und Stelle schweben.

"Wie sehen die Werte aus?"

"Gut", gab Bruce im selben Moment durch, in dem JARVIS bestätigte: "Stabil."

Na dann mal los. Grinsend tätschelte Tony sein Päckchen ein letztes Mal, bevor er sich mit dem Kopf voran in die Tiefe stürzte.

"JARVIS, zünden, sobald ich außer Reichweite bin."

//Verstanden, Sir.//

Nach mehreren Hundert Metern Sturzflug machte Tony eine Rolle in der Luft, sodass er nach oben blicken konnte und mit dem Rücken zur Erde gekehrt weiterstürzte. Links in seinem Sichtfeld zählte eine Countdownanzeige nach unten. Eine Warnung blinkte auf.

"Boom."

Über ihm explodierte der Himmel in leuchtendem, bläulich weißem Licht. Der Anblick war so grell, dass Tony ohne Sichtschutzfilter sicher ein paar Stunden geblendet gewesen wäre. Ziel von STARK SKYFIRE.0 war es gewesen, ein Feuerwerk zu erschaffen, das so riesig und leuchtstark war, dass man es noch meilenweit sehen konnte. Tony war nie dazu gekommen, SKYFIRE außerhalb von Simulationen wirklich zu testen. Das hier übertraf jedoch seine Erwartungen.

"JARVIS, schick mir und den anderen die Satellitenbilder."

Vor seinen Augen flackerte es kurz und da war sie: die Satellitenaufnahme der Explosion. Aus dieser Höhe wirkte sie wie ein einziger, blauglühender Punkt, doch wenn man näherzoomte, ergab die Formation der Streukörper mit ein wenig Phantasie einen riesigen, leuchtenden Hammer. Zufrieden schnalzte Tony mit der Zunge. Wenn Heimdall nicht völlig auf den Kopf gefallen war, würde er die Nachricht verstehen und an Thor weitertragen.

"Sieht großartig aus, nicht?"

"Wahnsinn", schnarrte Clint.

"Niemand hat dich gefragt, du Crétin."

"Und jetzt?", hörte Tony Steve über das Interkom fragen, doch er war sich nicht sicher, ob es für ihn bestimmt war. Vielleicht war es für niemanden bestimmt, denn Steve klang so nachdenklich, als redete er mit sich selbst.

"Jetzt", antwortete Tony und hielt Kurs auf den Stark Tower, "warten wir."

TBC

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~ Mark Twain

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